Neben dir sein (Kap. 5)
Ich habe keinen leisen Schimmer davon wie Marco mit Nachnamen heißt, geschweige davon wo er wohnt, aber vielleicht kann mir da ja Instagram behilflich sein. Ich gebe seinen Vornamen ein, das einzige was ich von ihm weiß. Und tatsächlich, ich werde fündig. Ich habe keine Bilder auf meinem Account seit dem Vorfall, hoffe aber, dass er mich anhand des Namens und meiner Nachricht erkennen wird. Hey, du hattest heute eine Party erwähnt, wo wohnst du? Nicht gerade eine Glanzleistung, aber hoffentlich wirksam. Ich lege mein Handy weg und laufe in meinem Zimmer auf und ab. Ich weiß gar nicht wirklich, warum ich jetzt so aufgeregt bin, aber ich brauche diese Ablenkung jetzt dringend. Mein Handy vibriert und ich springe aufs Bett. Eine Nachricht von marco345. In der er mir zum Glück seine Adresse verrät und noch ein paar anzügliche Kommentare beigefügt hat. Ein Grinsen schleicht sich auf mein Gesicht und ich erschrecke. Wann habe ich bitte das letzte Mal so einfach gelächelt? Ich lasse das Handy auf dem Bett zurück und gehe zu dem Kleiderschrank. Ich habe mich nicht mehr seit Nicks Tod mit der Klamottenfrage auseinandergesetzt und schon wieder sticht mein verdammtes Herz. Diese Party ist längst überfällig. In einem blauen kurzen Top und einer Skinny Jeans mache ich mich um kurz nach acht auf den Weg. Meine Mutter sitzt im Wohnzimmer und schaut Fernsehen. „Wohin gehst du?“, erkundigt sie sich, als ich mir gerade die Schuhe anziehe. „Ach, nur auf eine Party“, sage ich und schlüpfe in meine Jacke. Mama zeigt keinerlei Reaktion und nickt bloß. Ich weiß, was sie denkt, aber ich muss jetzt wirklich aus diesem Haus raus. Ich schaue noch einmal in ihre Richtung und gehe dann nach draußen. Es weht ein eiskalter Wind und ich setze meine Kapuze auf. Marco wohnt nicht weit von hier, zehn Minuten zu Fuß. Es ist bereits dunkel, aber ich weiß wo ich langgehen muss. Ich höre die Musik schon, bevor ich das Haus überhaupt zu Gesicht bekommen habe. Es ist ein kleiner Bungalow am Ende der Straße mit gelben Fensterläden und einer blauen Tür. Das Haus sieht einladend und bewohnt aus, nicht so wie die Villa von Nicks Eltern. Lieblos und überall nur weiß. Manchmal hatte ich das Gefühl, mich in einem Krankenhaus zu befinden. Ich bezweifle, dass mir jemand die Tür öffnen würde, wenn ich klingelte, deshalb schreibe ich Marco eine kurze Nachricht und warte. Meine Nase ist mit Sicherheit rot und meine Fingerspitzen fühlen sich kalt an von der Kälte. Wenig später öffnet sich die Haustür und vor mir steht Marco. „Hey, Kleine“, sagt er und grinst. Langsam gewöhne ich mich an diesen Spitznamen, obwohl ich das eigentlich gar nicht möchte. „Komm rein.“ Ich nicke ihm dankbar zu und trete in den Flur. Im Haus riecht es nach Alkohol, Zigarettenrauch und Gras. Marco hält mir wartend seine Hand hin, ich reiche ihm meinen Mantel und er verschwindet. Ich schaue mich im Flur um und entdecke ein paar Fotos in bunten Bilderrahmen. Ich trete näher an sie heran und mir blickt Marco entgegen, wie er wächst und älter wird. Auf einem Bild, er müsste so um die fünf Jahre alt sein, grinst er frech in die Kamera mit einer Zahnlücke und einer quergestreiften Kappe auf dem schwarzen Schopf. Er sieht einfach so lebendig und ehrlich aus, dass ich unwillkürlich lächeln muss. In Nicks Haus hängen keine Kinderfotos an den Wänden, sondern moderne Gemälde und professionelle Schwarz-Weiß-Fotografien. Das ist aber nicht immer so gewesen, weshalb es umso mehr schmerzt, jetzt daran zurück zu denken. „Ich war schon damals ein süßes Kerlchen, was?“, ertönt seine Stimme hinter mir und Marcos Atem kitzelt meinen nackten Nacken. Ich drehe mich von den Fotos weg und schaue hinter mich. Marco lächelt verschmitzt und erinnert mich entfernt an den kleinen Jungen von dem Foto. „Lass uns dir was zu trinken besorgen“, schlägt er vor und legt mir seine Hand in den Rücken. Diese Geste fühlt sich so vertraut an, obwohl ich diesen Jungen kaum kenne, dass ich all die Ereignisse der vergangenen Monate verdränge und in einem abgedunkelten Winkel meines Hirns verstaue. Marco dirigiert mich zur Küche und wir bleiben vor einem Klapptisch stehen, der unter dem Gewicht der unzähligen Flaschen zusammenzubrechen droht. „Was möchtest du?“, fragt er und deutet auf die provisorische Bar. Ich trete einen Schritt vor und der Platz, an dem seine Hand bis eben noch gelegen hat, fühlt sich plötzlich leer an. Schnell schüttele ich diese seltsamen Gedanken weg und schnappe mir einen Plastikbecher. Dann greife ich nach der Vodkaflasche und gieße mir etwas davon in meinen Becher. Den Rest fülle ich mit O-Saft auf und nehme einen Schluck von meiner selbstgemixten Mische. Marco bedenkt mich mit einem anerkennenden Blick und sieht mir dabei zu, wie ich den Drink in einem Zug austrinke und mir den nächsten nachschenke. Heute bin ich auf Ablenkmodus und mir ist egal, was wer von mir denken könnte. Die halten mich doch eh alle für einen Freak. Den Freak, dessen Freund erstochen wurde. Ich habe einmal ein Gespräch zwischen meinen Eltern belauscht, es war kurz nach dem Vorfall. Meine Mutter hatte geflüstert: „Sie darf es nicht wissen, sie darf den Grund für seinen Tod nicht erfahren.“ Tja, ich weiß ihn nicht, aber was ich weiß ist, dass ich live miterlebt habe, wie mein Freund ermordet wurde. Ich habe neben ihm gekniet und versucht, die Blutung zu stoppen. Und trotzdem geben seine Eltern mir die Schuld. Ich konnte die Blutung eben nicht stoppen, ich konnte ihn nicht mehr retten. Ich bin definitiv noch zu nüchtern, wenn ich solche Gedanken habe. Mischen sind also nicht genug, ich muss zu Shots übergehen. Ich nehme mir eines der kleineren Plastikgläser, die auf der Arbeitsfläche herumstehen, gieße es randvoll mit der klaren Flüssigkeit und kippe den Kurzen in meinen Rachen. Gerade als ich mir den nächsten einschenken möchte, spüre ich zwei starke Hände um meine Taille, die mich anscheinend davon abhalten wollen, mich vollaufen zu lassen bis ich nicht mehr klar denken kann. Diese beiden Hände drehen mich so, dass ich auch ihre Besitzer erkennen kann. Marco, wer denn auch sonst? „Lass mich los“, zische ich und versuche, mich aus seinem Griff zu befreien. Er schüttelt den Kopf und sagt: „Du hast genug getrunken.“ Woher will er das denn wissen? Ich bin noch völlig nüchtern. „Mir geht’s gut“, erwidere ich und starte einen neuen Versuch, mich aus seiner Umklammerung zu lösen. Vergeblich, sein Griff ist steinhart. „Dann zeig mal, wie nüchtern du bist“, höhnt Marco und lässt mich abrupt los. Ich taumele vorwärts und wäre beinahe zu Boden gegangen, hätte er mich nicht aufgefangen. Anscheinend hatte ich doch mehr getrunken, als gedacht. Marco führt mich langsam zum Küchentisch und platziert mich auf einem der Stühle, bevor er losgeht, um mir Wasser zu besorgen. Erst jetzt nehme ich wieder wahr, dass wir uns auf einer Party befinden. Von der laut wummernden Musik bekomme ich Kopfschmerzen. Auf einmal verspüre ich das dringende Bedürfnis mich in meinem Bett einzukuscheln. Ich nehme das Glas mit Wasser entgegen und leere es in einem Zug. „Ich muss los“, verkünde ich und möchte aufstehen, aber Marco drückt mich sanft auf den Stuhl. „Wohin?“, möchte er wissen, sein Gesichtsausdruck ist ernst. „Ich möchte nach Hause“, wispere ich und glaube schon fast, er hätte mich nicht gehört, aber plötzlich hebt Marco mich hoch und schleppt mich in den Flur. Dort lässt er mich stehen, ich muss mich an der Fotowand festhalten, um nicht wegzukippen und redet mit einem Jungen mit braunen Haaren und einigen Tattoos an den nackten Armen. Ich versuche gerade auszumachen, ob es sich um einen Drachen oder eine Katze an dem Bizeps des Typen handelt, als Marco vor mir auftaucht und verkündet, dass er mich jetzt nach Hause fährt. „Nein“, entfährt es mir und ich schüttele dazu auch noch den Kopf. „Du bist doch der Gastgeber“, sage ich und schüttele erneut den Kopf. „Jetzt nicht mehr“, meint er dazu lachend und deutet mit dem Kopf zu Tattoo-Boy. „Ivan kümmert sich jetzt um die Gäste.“ Ich nicke langsam und folge Marco zur Haustür. Sein Wagen parkt direkt vor dem Haus, weshalb wir nicht weit laufen müssen, dennoch friere ich, als wir uns hineingesetzt haben. „Ich kann auch nach Hause laufen, ist echt nicht weit“, versuche ich, ihn von seiner Idee abzubringen. Marco lacht nur. „Ich habe gesehen, wie du gerade laufen kannst.“ Ich verdrehe bloß die Augen und schnalle mich an. Die kurze Fahrt verläuft schweigend, es ist bloß zu hören, wie Marcos Finger aufs Lenkrad tippen. Ich weiß nicht, wie ich in diese Situation geraten bin und verfluche meine unaufhörlichen Gedanken, die mich dazu gebracht haben, mich ablenken zu wollen. Kurze Zeit später hält Marco vor meinem Haus, ich schnalle mich ab und umschließe den Türgriff. „Danke“, murmele ich noch, bevor ich aussteige und mich, ohne noch einmal zu ihm zu schauen, zur Haustür begebe. Ich schließe die Tür auf und höre, wie sein Wagen wegfährt. In der Küche brennt Licht, ich weiß nicht mehr, wie spät es ist. Möglichst leise drücke ich die Tür zu und ziehe mir meine Stiefel aus. Auch meinen Mantel knöpfe ich auf und hänge ihn an den Kleiderhaken. „Schätzchen, bist du das?“, kommt es leise aus der Küche und ich gucke nach, wer dort sitzt. Mama sitzt alleine am Tisch und vor ihr steht ein Weinglas. Sie sieht traurig und müde aus, ihre Mundwinkel sind nach unten gezogen. „Hey, Mama. Was ist los?“, frage ich vorsichtig und gehe einen Schritt auf sie zu. Am Tischbein steht eine leere Weinflasche. Ich bin wohl nicht die einzige, die an diesem Abend das Verlangen verspürt, sich vollaufen zu lassen. „Ach, nichts, Elli. Geh schlafen“, sagt sie, ihre Stimme ist dabei leicht schleppend. Ich weiß, dass Mama jetzt nicht mit mir sprechen möchte, deshalb nicke ich nur leicht und lasse sie sitzen. Danach verlasse ich die Küche und gehe nach oben. Ich bin immer noch leicht wackelig auf den Beinen, weshalb ich mich am Geländer festhalte, um nicht hinzufallen. In meinem Zimmer angekommen, ziehe ich mich aus und schlüpfe in Nicks T-Shirt. Auf meinen Beinen hat sich eine Gänsehaut gebildet und ich kuschele mich schnell in meiner Decke ein. Ein kurzer Blick aufs Handy zeigt eine neue Nachricht von Marco an. Schlaf schön, Kleine. Unwillkürlich muss ich lächeln und schließe die Augen.