Neben dir sein (Kap.27)
Nach der gelungenen Sitzung, wie Marcus immer wieder zu betonen pflegt, bis Mama und ich sein Büro verlassen haben, besteht er darauf, einen weiteren Termin für die nächste Woche zu vereinbaren. Meine Mutter schickt mich schon einmal nach draußen zum Auto, während sie sich wahrscheinlich noch einmal vergewissern möchte, dass alles so gelaufen ist, wie es laufen sollte. Im Auto hole ich mein Handy hervor und werde nach dem Einschalten direkt von mehreren verpassten Anrufen und neuen Nachrichten begrüßt. Sorgenvolle Nachrichten von Marco, in denen er wissen möchte, was ich denn so treibe und wo ich verbleibe. Die letzte SMS, in der er scherzhaft, oder vielleicht auch nicht, fragt, ob ich noch am Leben sei, ist nur wenige Minuten her. Ich schicke ihm eine schnelle Antwort, in der ich ihn damit beruhige, dass alles gut ist und ich einfach nur mein Handy verlegt habe beim Fernsehen im Wohnzimmer. Meine Mutter kommt zu mir ins Auto, stellt ihre Handtasche nach hinten und atmet erst einmal tief durch. In solchen Momenten merke ich wieder, wie sehr diese Situation meine Mutter belastet. „Das war doch nicht so schlimm, oder?“, fragt sie und ich bin mir sicher, dass diese Frage eher rhetorisch gemeint ist. „Hast du Hunger?“
Wenig später sitzen wir in einem kleinen Restaurant, nicht weit von Marcus´Büro entfernt. Unsere Bestellung haben wir bereits aufgegeben und jetzt warten wir auf das Essen. Bevor meine Mutter gefragt hat, habe ich gar nicht bemerkt, wie hungrig ich gewesen bin. Seit dem Frühstück habe ich nichts mehr zu mir genommen und dagegen protestiert mein Magen jetzt ordentlich. Mama hat sich eine Serviette vom Stapel genommen, die sie nun immer wieder zu einer Wurst zusammenrollt und diese dann auch wieder entwirrt. „Ein schönes Lokal, nicht wahr?“ Mit diesem Satz, der auch von meiner Großtante Marie stammen könnte, würde sie denn noch leben, versuche ich nun, die etwas steife Stimmung zwischen uns aufzulockern. Mama schaut von ihrem halbherzigen Origami-Versuch auf und lächelt mir nickend zu. „Tatsächlich, ja.“ Sie scheint abwesend zu sein und der einzige Grund, der mir dafür in den Sinn kommt, ist das Gespräch mit Marcus nach der Hypnose-Sitzung. Vielleicht habe ich nicht die Fortschritte gemacht, die er erwartet hat. Ich traue mich aber nicht, sie direkt danach zu fragen, weshalb wir uns weiterhin schweigend gegenüber sitzen und darauf warten, dass die Kellnerin uns unser Essen bringt. Lange müssen wir nicht mehr warten, denn wenige Minuten später taucht besagte Kellnerin an unserem Tisch auf und stellt den Teller mit der Gulaschsuppe vor meiner Mutter und den Teller mit den Bratkartoffeln vor mir ab. Ein letztes Lächeln, dann widmet sie sich dem Neuzugang, der soeben die Türen passiert hat. Weiterhin schweigend essen wir, zwischendurch gespickt von einem „Mmh“ oder „Lecker“. Anhand Mamas Gesichtsausdruck kann ich nicht wirklich ablesen, woran sie gerade denkt, denn auch der sorgenvolle Blick, den sie bei unserer Ankunft im Restaurant hatte, ist nun verschwunden. Nachdem wir bezahlt und uns für das Essen bedankt haben, fahren wir nach Hause, erneut ohne große Worte. Die Sitzung muss meine Mutter ordentlich traumatisiert haben, weil sie eigentlich einer der gesprächigsten Menschen ist, die ich kenne. Ich möchte so gerne fragen, was denn los ist, warum sie so bedrückt ist, aber aus meinem Mund kommen keine Worte. Ich weiß in diesem Moment nicht, wie ich meine Mutter auffangen soll, so wie sie es immer bei mir macht.
Eine Woche später beginnt das Gleiche Szenario von vorne. Meine Mutter holt mich von der Schule ab, wir fahren zur Praxis meines Therapeuten, welcher bereits erfreut auf uns wartet. „Ah, Elise. Guten Tag, hereinspaziert.“ Heute scheint er ein wenig hibbeliger zu sein als es sonst der Fall ist. Ist er vielleicht auch nervös? Meine Mutter wird ins Nebenzimmer verfrachtet, mit einer heißen Tasse Tee und einem Teller von Marcus´selbst gebackenen Keksen. Ich kriege wie beim letzten Mal den Ehrenplatz auf der Hypnose Liege, welche erneut mit bunten Kissen und einer weichen Decke ausgestattet ist. Marcus kommt direkt hinter mir rein, schließt die Tür und nimmt neben mir auf dem Stuhl Platz. „Bist du bereit?“, fragt er auch diesmal und lächelt mir zu. Ich atme tief durch und nicke. Ich bin bereit. Ich lege mich hin und nutze auch die Decke, die mich ummantelt, warm und gemütlich. „So, Elise. Konzentriere dich bitte wie beim letzten Mal auf diese Kette. Folge ihr mit deinen Augen. Denke daran, wo du beim letzten Mal stehen geblieben bist. Fokussiere dich auf die Erinnerungen, fange sie ein.“ Die Ansprache ist beendet und Marcus holt die Kette hervor. Ich folge den grünen und blauen Spiralen mit meinen Augen und schwebe kurz darauf davon, in die Welt der Träume. In meinem Fall wohl eher ins Land der Albträume, denke ich.