Neben dir sein (Kap. 6)
Der nächste Morgen bringt mir pochende Kopfschmerzen und einen kratzigen Hals. Langsam setze ich mich im Bett auf und versuche, mich an die Ereignisse des letzten Abends zu erinnern. Mein Kopf meldet sich augenblicklich mit einem nervigen Stechen und ich verfluche mich selbst für meine grenzenlose Dummheit gestern Abend. Warum nur habe ich so viel getrunken? Das ist natürlich eine rhetorische Frage, auf die ich die Antwort weiß und auch gestern Abend schon im Kopf hatte. Ich wollte die endlosen Gedanken und die vielen Schuldgefühle abstellen. Einfach alles um mich herum vergessen. Das hat ja super geklappt. Vielleicht wäre ich sogar in der Lage gewesen, alles für einen Moment still zu halten, all meine Gedanken und Gefühle, hätte Marco mich nicht davon abgehalten. Er hat es nur aus Fürsorge gemacht, dennoch hätte ich gerne für einen Augenblick vergessen, was der eigentliche Grund für mein Auftauchen bei dieser Party gewesen ist. Nicht etwa die nette Einladung dieses fremden Jungen, sondern die Tatsache, dass ich mittlerweile so verkorkst geworden bin, dass ich zu Alkohol greifen muss, um alles darin zu ertränken. Um mich für einen kurzen Zeitraum taub und leer zu fühlen. Die Albträume kann ich mithilfe von Hochdosierten Schlaftabletten im Schach halten, aber mit den Erinnerungen, die mich tagsüber heimsuchen, lässt sich das nicht so leicht anstellen. So gerne würde ich diese eine Nacht aus meinem Gedächtnis löschen, die Unmengen an Blut, die aus Nicks Bauch gequollen sind, seine glasigen Augen, aus denen nach und nach das Leben wich. Ich habe dieses Bild so gut vor Augen, erinnere mich an jedes noch so kleine Detail. Aber ich weiß das einzig Wichtige nicht, den Knackpunkt, zu dem meine und seine Eltern aber Zugang haben. Warum er, mein Nick, kaltblütig umgebracht worden ist.
Nachdem ich mich unter der Dusche ein wenig frisch gemacht und mir den Gestank des gestrigen Abends von der Haut gewaschen habe, schlüpfe ich schnell in gemütliche Klamotten und gehe nach unten. Papas Mantel und sein Aktenkoffer befinden sich nicht am üblichen Platz, weshalb ich vermute, dass er bei der Arbeit ist und sich vor mir versteckt. Mama sitzt in der Küche und liest in einem vor ihr liegenden Buch, während sie von ihrem Morgenkaffee schlürft. „Guten Morgen“, sagt sie, als sie mich husten hört. Der traurige Gesichtsausdruck von gestern Nacht ist wie wegradiert, sie lächelt mich liebevoll an und deutet auf den Platz ihr gegenüber. „Es ist noch etwas Bacon da und Rührei kann ich dir machen. Wenn du möchtest, natürlich.“ Sie klingt wie eine eifrige Biene, die möglichst viel Honig an einem Tag sammeln möchte. Aber stattdessen will sie möglichst viele Bonuspunkte bei mir sammeln, aus Angst, ich könnte sie von mir stoßen. Ich bin schon immer ein Papakind gewesen, das weiß sie auch, weshalb es mich umso mehr schmerzt, dass er mich ausschließt aus seinem alltäglichen Leben und mich wie eine Aussätzige behandelt. Früher haben wir immer Wanderungen zusammen unternommen oder sind picknicken gefahren, jetzt gibt es nur noch die Arbeit und seine Mandanten für ihn. Als wären diese fremden Menschen seine neue Familie. Mama lässt sich nichts anmerken, aber ich weiß, dass es ihr an die Nieren geht, dass er streng genommen kein Teil dieser Familie mehr sein möchte. Papa würde es nicht laut sagen oder uns gar verlassen, aber dieser Vorfall hat dazu geführt, dass er mir nicht mal mehr in die Augen schauen kann. Und das tut mir verdammt weh. Sogar mehr, als wenn er Mama einfach nur betrügen würde. Denn da wüsste ich wenigstens, dass nicht ich der Grund für sein Verhalten bin.