Noch ein letzter Zug (Kurzgeschichte)
Dieses Mädchen steht vor mir und starrt mir mit einem höhnischen Grinsen entgegen, so als wolle sie sagen: Du bist ein Nichts. Mir wird schlecht wenn ich sie auch nur anschaue. Dieses Mädchen mit den dünnen Haaren, den blauen Augen, dem fetten Körper. Dieses Mädchen, was ich selbst bin. Dieses Mädchen, zu dem sie mich gemacht haben. „Weißt du, ich finde, du solltest nicht so viele Törtchen essen. In deinem Alter verschwinden die überschüssigen Kalorien vielleicht leicht, aber wenn du erst mal in mein Alter kommst…“ Mutter ließ den Satz extra unbeendet, ausklingend in der Leere, damit ich mir selbst zusammenreimen konnte, worauf sie hinauswollte. Ihr missbilligender Blick sprach dafür Bände, dennoch griff ich nach einem weiteren Cupcake und stopfte ihn mir in den Mund. „Ach, mach doch was du willst“, brummte sie genervt und verließ die Küche, aber nicht ohne mir noch einen letzten vorwurfsvollen Blick zugeworfen zu haben. Es klingelte. Die Pause war vorbei und ich stand alleine von dem Platz in der Bibliothek auf, wo ich mich jeden Tag verkroch um ihnen nicht gegenüber treten zu müssen. Aber sie fanden mich trotzdem. Immer und überall. Langsam machte ich mich auf den Weg, zu der Höllenstunde, der Stunde, in der sie mich am meisten schikanierten. Sport. Ohne mich groß zu beeilen, setzte ich einen Fuß vor den anderen, den Blick auf den Boden gerichtet. Diesen grauen Boden mit den vielen schwarzen und weißen Pünktchen. „Wen haben wir denn da?“, riefen sie schon von Weitem, alle im Kreis aufgestellt, wie gierige Hyänen, die ihre Beute umzingelten. Ich war ihre Beute. „Heute siehst du besonders hübsch aus“, spuckte eine von ihnen heraus und schob ein dreckiges Lachen hinter her. Muahaha. Wie der Teufel. Meine Handflächen fühlten sich nass an, meine Kehle war trocken, obwohl ich mich schon längst daran gewöhnt hatte. Es war schließlich Alltag, genauso wie Aufstehen oder Zähne putzen. „Schicker Pullover! Von deiner Omi? Oder von dem Penner vorm Aldi?“, gackerte die Nächste. Ohne einen Mucks von mir zu geben, stellte ich mich neben eine Bank, möglichst weit weg von ihnen. „Warum sagst du denn nichts? Glaubst du etwa, du wärst besser als wir? Vergiss das!“ Ihr Gelächter vermischte sich zu einem einzigen wirren Knäuel. Aber es war nicht so schlimm, schließlich waren sie alleine, ohne ihn. Er war der Grund. „Du bist wunderschön“, flüsterte er, strich mir mit seinen Fingern über die Hand, während wir nebeneinander auf meinem Bett saßen. Zwei junge Menschen, beinahe noch Kinder, die erste Liebe. Hatte ich zumindest gedacht. Es war einseitig gewesen. Es hatte angefangen an einem äußerst kalten Novembernachmittag. Ich war noch länger in der Schule geblieben, Chorprobe, und hatte den letzten Schulbus nach Hause verpasst. Ich wohnte nicht weit von der Schule entfernt, aber ich mochte es nicht, als einzige aus der Klasse zu laufen, es war so uncool. Ich verließ das Schulgebäude, darauf gefasst alleine zu laufen, als er auf einmal hinter mir herauskam und ein schüchternes „Hey“ herausbrachte. Ich nickte ihm lächelnd zu, zu perplex um irgendetwas zu antworten. „Gehst du jetzt nach Hause?“, fragte er und ich nickte wieder. „Hast du deine Zunge verschluckt?“ Ein leises Kichern entschlüpfte meinem Mund und ich wurde rot. Gott, wie peinlich. Er dachte jetzt bestimmt, ich wäre total dumm. „Komm, ich begleite dich, du stille Maus.“ Meine Wangen wurden noch röter, wenn das überhaupt möglich war, aber er grinste mich locker an und schaffte es damit irgendwie, dass meine Aufregung wie kleine Atemwölkchen verpuffte. Nebeneinander gingen wir her, mit geröteten Nasen und kalten Händen kamen wir bei mir zu Hause an. So sehr es Mutter an Nettigkeit bei mir fehlte, so freundlich war sie zu ihm, lud ihn zu uns ein, bot ihm einen heißen Kakao an, um sich zu wärmen. So saßen wir am Küchentisch, Mutter hatte uns zum Glück allein gelassen, tranken unsere heiße Schokolade, kicherten leise vor uns hin. Später schlichen wir uns in mein Zimmer, machten die Tür zu und setzten uns auf mein Bett. Ich hatte noch nie einen Jungen geküsst und hatte irgendwie auch Angst davor. Wie es wohl wäre? Langsam rückte er näher und flüsterte: „Du bist wunderschön.“ Mein Herz machte einen Satz. Würde er mich jetzt küssen? Aber stattdessen stand er auf und sagte: „Ich muss jetzt los.“ „Aber.. Warum denn so plötzlich?“ Er schüttelte bloß den Kopf und ging. Hatte ich etwas falsch gemacht? Den ganzen restlichen Nachmittag und auch den Abend zerbrach ich mir den Kopf darüber, betrachtete mich zig Mal im Spiegel und suchte nach dem Fehler. Ich war vielleicht nicht die Schönste im Lande und auch kein schlankes Supermodel, aber ich war nicht unzufrieden mit mir. Ich mochte mich. Am nächsten Morgen ging ich nur so vor Selbstbewusstsein strotzend zur Schule, um dann mit der kältesten Ignoranz empfangen zu werden. Ausgerechnet von ihm. Er saß mit ihnen zusammen, lachte und würdigte mich keines Blickes. Ich wollte ihn fragen, was denn passiert war, gestern hatten wir uns doch so gut verstanden, aber als ich in seine Nähe kam, lachten sie nur. Später, ich erwischte tatsächlich eine Gelegenheit mit ihm zu sprechen, grinste er mich herablassend an und sagte: „Du glaubst doch nicht, ich hätte wirklich Interesse an dir gehabt. Du bist fett. Und hässlich. Ich wollte nur mal sehen, wie du als Abschaum so lebst.“ Seine Worte trafen mich wie Messerstiche mitten ins Herz. Tränen liefen mir über mein Gesicht, was er nur mit einem Lachen quittierte und davon marschierte. Er hatte doch gesagt, ich wäre wunderschön. Anscheinend war es eine Lüge gewesen, eine Falle, in die ich auch noch rein getreten war, ja beinahe rein gesprintet. So wurde aus dem Jungen, den ich gemocht hatte, er. Eine weitere Marionette von ihnen. Sie kamen näher, hatten mich beinahe umzingelt, ganz vorne an der Spitze stand sie, die Anführerin, die Königin. „Du bist so armselig wie du hier stehst, ja wie du aussiehst, du bist so ein Abschaum.“ Ich versuchte nicht auf sie zu schauen, nicht in ihre glühenden, wütenden Augen, die mich beinahe verschlangen. Wie Raubtiere. „Jetzt tu mal nicht so überheblich. Du bist nicht besser als wir. Du bist ein Nichts!“ Die Lehrerin war meine Rettung, mein Rettungsreifen in der Flut der Schikanen. Schlagartig ließen sie von mir ab, zogen von dannen, wie eine Herde, ein Schwarm. Alleine blieb ich zurück, mit steinerner Miene, aber zerbrochenem Herzen. „Wenn du weiterhin so viel isst, müssen wir dir wieder eine neue Garderobe kaufen“, zischte Mutter, Spucke flog aus ihrem griesgrämigen Mund. Mein Appetit war mir vergangen, ich schob den Teller weg, erhob mich und ging. In meinem Zimmer öffnete ich meinen Kleiderschrank, holte den Schuhkarton von den teuren Turnschuhen heraus. Puma. Hatte ich mir für sie gekauft. Um akzeptiert zu werden. Weil alle diese Schuhe trugen. Aber sie hatten mich nur ausgelacht. Hahaha. Du bist so armselig. Dreckige Worte. Zischelnde Schlangen. Der Schuhkarton beherbergte meine Flucht. Mein Entkommen. Eine kleine, rechteckige Schachtel. Langsam griff ich hinein, umfasste sie, die dünne Zigarette. Daneben lag das Feuerzeug, dass ein Verlangen in mir entfachte. Dieses Verlangen, endlich auszubrechen. Der Rauch umhüllte mein Inneres, fraß sich in die fiesen Gedanken, verbrannte die gemeinen Worte. Ich fühlte mich für einen kurzen Augenblick wieder frei. Frei von ihnen. Mutter wusste nichts von dieser Freiheit, für sie gab es nicht mich sondern nur meinen fetten Körper, der von den ganzen Törtchen und Pizzastücken noch aufgedunsener wurde. Sie war genauso wie sie, mit ihren fiesen Worten und Sticheleien. Der Rauch fühlte sich gut an, wie eine weiche Decke, die mein Inneres umhüllte. Wie große, federleichte Flügel, die mich davontrugen, in eine andere Welt, ohne sie. Tag 294. Der 21. Oktober. Ein kalter, windiger Tag. Der Regen fiel in dichten Wänden vom wolkenverhangenen Himmel, genauso dunkel wie ihre verzogenen Fratzen. Sie hatten mich schon wieder angeschrien, „Du bist fett“, hatten sie gebrüllt und gelacht. Einmal hatten sie mich geschubst, nicht dolle, nur so, dass ich gestolpert war und vor seine Füße gefallen war. „Schön, dass du mir die Füße küsst, du armseliges Nichts. Genau das ist deine Aufgabe!“ Meine Wangen brannten, als ich mich langsam erhob, meine Bücher waren aus dem Rucksack gefallen. Sie lagen auf dem Boden verstreut, sie kickten sie herum, wie viereckige Fußbälle. Hahaha. Sie brüllten vor Lachen. Mein Inneres zog sich zusammen. Ich brauchte meine Freiheit, meinen Fluchtweg. Nur noch einen letzten Zug wollte ich nehmen von dieser köstlichen Illusion der Freiheit. Aber sie verbaten es mir, versperrten mir den Weg. Kein Entkommen. Mein Herz schmerzte. Nur noch einen letzten Zug. „Du bist hässlich“, schrien sie. „Du bist widerlich!“ Ich konnte mich nicht wehren, meine Bücher lagen zerfleddert auf dem grauen Fußboden mit den schwarzen und weißen Punkten. Lachend schritten sie von dannen, Arm in Arm, die teuflische Schwesternbande. Ich sammelte langsam meine Sachen auf, nur um nicht hinter ihnen zur nächsten Stunde zu gehen. Ich wollte, ich musste nach Hause. Zu meiner Freiheit. Zu meinem Entkommen. Noch einen letzten Zug. Einfach verschwinden. Wie es wohl wäre, einfach davonzugehen? In eine andere Welt. Vielleicht würde ich akzeptiert werden, vielleicht würde ich sogar gemocht werden. Wie es wohl wäre, ganz frei zu sein? Nicht nur temporär wie mit den Zigaretten, dieser kleinen, schmackhaften Freiheit. Sondern eine große, riesige, ja, unendliche Freiheit. Ja, es wäre wundervoll. Dieses Mädchen steht vor mir und starrt mir mit einem höhnischen Grinsen entgegen, so als wolle sie sagen: Du bist ein Nichts. Mir wird schlecht wenn ich sie auch nur anschaue. Dieses Mädchen mit den dünnen Haaren, den blauen Augen, dem fetten Körper. Dieses Mädchen, was ich selbst bin. Dieses Mädchen, zu dem sie mich gemacht haben. Ich greife in die kleine, rechteckige Schachtel und greife nach der allerletzten. Neben der Schachtel liegt eine weitere, kleinere Verpackung. Darin befindet sich die unendliche, richtige Freiheit. Ich zünde die letzte Zigarette an, genieße noch einen letzten Zug, bevor es losgeht. Ich mache mich auf eine Reise in die unendliche, richtige Freiheit. Für immer.