Neben dir sein (Kap. 33)
„Ich erinnere mich an deinen Freund. Nick, nicht wahr? Er hatte sich bei Ivan gemeldet, um ihm eine Ladung Drogen abzukaufen, ich weiß nicht, ob für sich oder für jemand anderen. Er hatte die ganze Summe nicht bezahlen können und der Boss hatte ihm über Ivan eine Frist vermittelt, ihm diese zu übergeben. Nick hat das Geld nicht abgegeben zu der gegebenen Zeit und da ist der Boss wütend geworden, mit ihm ist in solchen Situationen nicht zu spaßen. Er hat Nicks Handy orten lassen und euch auf dieser Hausparty aufgespürt. Jonny sollte dich anbaggern und Nick dann mit Fotos aus der Reserve locken.“ Marco sieht mich forschend an. Ich schnappe nach Luft, der Raum fühlt sich plötzlich viel zu eng an. Anbaggern nennt er das? Dieser Jonny hatte mich beinahe vergewaltigt, hätte Nick nicht frühzeitig eingegriffen. „Der Boss hatte eingewilligt, Nick noch eine Woche zu geben, um das Geld aufzutreiben. Nach einer Woche war das Geld immer noch nicht da und der Boss ist richtig ausgerastet. Er hat Ivan losgeschickt, um Nick krankenhausreif zu schlagen, als letzte Warnung sozusagen. Aber Ivan war zugedröhnt an dem Abend und hat es übertrieben mit der Aufgabe. Jetzt hat er einen Mord am Hals und kein Anwalt der Welt kann ihn da mehr rausholen. Die Polizei weiß aber immer noch nicht, wer genau es gewesen ist.“ Jetzt ist Marco derjenige, der tief Luft holt. Seine Erzählung ist beendet, aber ich fühle mich nicht leichter. „Ich war an dem Abend auch da“, flüstere ich, als würde das irgendetwas an dieser schrecklichen Geschichte und ihrem Ende ändern. Marcos Augen weiten sich und er rückt näher an mich heran, um mich in den Arm zu nehmen. Tränen laufen über meine Wangen, der Schmerz, Nick verloren zu haben, fühlt sich erneut unerträglich an. Wie kann die Polizei Ivan immer noch nicht gefasst haben, nach allem, was damals geschehen ist. Als hätte Marco meine Gedanken gelesen, sagt er: „Du darfst nicht zur Polizei damit gehen. Ivan würde auf lebenslänglich ins Gefängnis kommen. Das kann ich einfach nicht zulassen.“ Ich starre ihn verständnislos an. „Dieser Bastard hat meinen Freund umgebracht. Meinen Freund! Begreifst du das nicht? Nick war der wichtigste Mensch für mich.“ Meine Stimme bricht und immer mehr Tränen fließen über mein Gesicht. Marco rückt wieder von mir ab und sieht mich mit ernstem Blick an. „Ich verstehe, wie schmerzhaft es für dich gewesen sein muss. Aber Ivan ist wie ein Bruder für mich, ich kann das einfach nicht zulassen.“ Sein Blick wird weicher, beinahe flehentlich sieht er mich an. Bitte, bitte, scheint er stummt zu sagen. Aber wenn die Polizei Ivan immer noch nicht überführt hatte, was hatte dann die Mappe mit Marcos Namen in Papas Schublade zu bedeuten?
Diese Frage beantworte ich mir, nachdem ich Marco mit den Worten, ich müsse alleine sein, nach Hause geschickt habe. Meine Mutter ist immer noch in der Küche beschäftigt, weshalb ich oben freie Bahn habe. Das Büro meines Vaters ist nicht abgeschlossen, wahrscheinlich hat er es als risikofrei eingestuft, mich in der Nähe seines Arbeitszimmers zu wissen. Die Aktenmappe liegt erstaunlicherweise an der gleichen Stelle, unter der Mappe von Nick und mir verborgen. Marcos Name ist mit schwarzem Edding drauf geschrieben, aber als ich die Mappe öffne, entdecke ich Fotos von Ivan und mir unbekannten Gesichtern. Unter den Bildern befinden sich Steckbriefe über Marco, Ivan, einen gewissen Maxim, der auf den Spitznamen Iron hört und einem mehr als bulligen Schlägertypen, der sich als Martin Winters aka der Boss entpuppt. Mein Vater kennt also die Identitäten, die hinter den Gangmitgliedern stecken. Aber was bedeutet das? Verfolgt er den Fall? Weiß die Polizei vielleicht doch Bescheid? Schnell stopfe ich alles zurück in die Aktenmappe und verstaue diese dann im Schreibtisch. Mein Kopf dröhnt und ich weiß nicht, was ich mit dieser Information anfangen soll.