Neben dir sein (Kap. 30)
Ich sitze auf unserer Couch im Wohnzimmer und versuche, das zu verarbeiten, was ich in den letzten Stunden erfahren habe. Zum Einen sind da die Ereignisse, an die ich mich während der Hypnose erinnern konnte, später sind aber auch weitere hinzugekommen, wie eine Art Flutwelle, die durch die Hypnose hervorgerufen wurde. Mama hat mir einen Beruhigungstee gebracht, der jetzt dampfend auf dem Couchtisch steht, mich in eine Decke eingemummelt und sich dann neben mich gesetzt, um sofort mitzubekommen, falls ich zusammenbrechen sollte. Mein Vater befindet sich ebenfalls im Raum, er steht am Fenster und schaut hinaus in den Garten. „Luise, sie kann sich wirklich an alles erinnern?“, fragt er zum bereits dritten Mal an diesem Nachmittag und schaut mich dabei unverwandt an. Auch mit der Kenntnis der Geschehnisse vor einem halben Jahr, kann ich das Verhalten meines Vaters nicht nachvollziehen. Ich begreife einfach nicht, wie er mich so von sich stoßen konnte, obwohl er doch derjenige sein soll, der mich beschützt. Ich nehme die heiße Tasse in meine Hände, nehme einen Schluck von dem dampfenden Tee und werfe dann einen Blick auf meinen Vater. Wie er da steht und nach draußen schaut, sieht er alt und gebrochen aus. Die Schultern sind nach vorne gesackt, die Haare haben mehr grau in sich als Farbe, die Mundwinkel sind nach unten gezogen. Er sieht nicht mehr aus, wie der Vater, mit dem ich in meiner Kindheit immer gespielt habe.
Nachdem ich unter den Argusaugen meiner Mutter den widerlichen Tee ausgetrunken habe, entschuldige ich mich und gehe nach oben auf mein Zimmer. Mir werden weitere neue Nachrichten von Marco angezeigt, aber ich habe jetzt keine Kraft und vor allem keine Lust mich mit ihm auseinander zu setzen. Ich kann nicht fassen, dass er auch in meine Vergangenheit verwickelt gewesen ist. Während der Hypnose habe ich mich wieder an den Namen „Iron“ erinnert, der auch im Gespräch zwischen Marco und Ivan gefallen ist. Ich habe wieder deutlich vor Augen gesehen, wer das Messer gehalten hat in jener Nacht und wer zugestochen hat. So brutal und kaltherzig. Tränen steigen mir in die Augen und ich muss erneut an diese blöde braune Aktenmappe mit Marcos Namen denken. Er muss etwas mit Nicks Tod zu tun gehabt haben oder zumindest diese Gang, in der er dank Ivans Verschuldung Mitglied ist. Von dieser Grübelei bekomme ich Kopfschmerzen und obwohl ich jetzt weiß, was genau passiert ist und wer was damals verbrochen hat, kann ich die einzelnen Gesichter nicht miteinander verknüpfen. Ich weiß immer noch nicht, wer „Iron“ ist, wieso Nick diesen Gang-Leuten etwas geschuldet hat oder welche Position Marco in diesem ganzen Drama einnimmt. Aber ich weiß, dass ich fest entschlossen bin, es herauszufinden.