Neben dir sein (Kap. 24)
Am Abend stehe ich wie verabredet bei Marco vor der Tür, nervös und neugierig zugleich. Ich habe keine Vorstellung davon, in welche Richtung sich dieses Gespräch entwickeln wird. Entschlossen, genau das herauszufinden, drücke ich die Klingel und trete einen Schritt zurück. Als hätte er bereits im Hausflur gewartet, reißt Marco die Tür auf und lächelt mich an. Verdammt, diese Grübchen. „Hallo“, presse ich hervor und bringe ebenfalls ein Lächeln zustande, was wahrscheinlich eher einer gruseligen Fratze ähnelt. „Komm doch rein“, bietet er mir an und diese aufgesetzte Höflichkeit fühlt sich bei ihm noch falscher an als zuvor bei Luise. Ich trete durch die Tür, schlüpfe aus meinem Parka und Marco nimmt ihn mir sofort ab, ganz der Gentleman. „Möchtest du… ähm, vielleicht etwas trinken?“, erkundigt er sich und streicht sich dabei sichtlich nervös durch die dunklen Locken. Anscheinend bin ich hier nicht die Einzige, die Angst vor diesem Gespräch hat. Ich verneine seine Frage und er bedeutet mir, ihm in sein Zimmer zu folgen. Auf dem Weg passieren wir das Wohnzimmer, in dem eine ältere Dame mit lateinamerikanischen Zügen Fernsehen schaut, sich aber sofort zu uns umdreht, als wir vorbeigehen. „Oh, hallo“, sage ich und winke ihr lächelnd zu. Diesmal ist mein Lächeln echt, ich freue mich tatsächlich darüber unsere Unterhaltung noch etwas hinauszögern zu können. „Hola, ricura! Du bist aber eine Schönheit“, ruft sie aus und erhebt sich umständlich aus ihrem Ohrensessel, um mich zu umarmen. Sie drückt mich so fest an sich, als wäre ich in Wirklichkeit ihre lang verloren geglaubte Enkelin, die nun auf einmal wieder vor ihr steht. „Abuelita, sie bekommt doch keine Luft mehr“, tadelt Marco sie lachend und Abuelita lässt mich los. „Oh, welch eine Schönheit du bist! Ich bin Mariella“, ruft sie und umarmt mich noch einmal, diesmal aber nur ganz kurz. „Ach, ich bin Elise“, sage ich und lächele noch ein wenig breiter. Diese Frau ist einfach nur zuckersüß mit ihrem pinken Bademantel und der liebevollen Art. „Bleib doch zum Essen, meine Tochter, Rosa, kommt gleich aus dem Laden und wir machen Enchiladas. Leckeres Essen!“ Fragend sehe ich zu Marco, der seine Oma anstrahlt und sich schließlich nickend zu mir umdreht. „Ja, Elise du solltest wirklich bleiben.“ Also willige ich ein und schicke meiner Mutter auf dem Weg nach oben eine kurze Nachricht. Mariella klatscht freudig in die Hände, als ich mich dazu bereit erkläre, mit ihnen zu Abend zu essen. In Marcos Zimmer schlägt die Stimmung um und wir sind wieder angespannt und starren überall hin nur nicht zueinander. Irgendwann halte ich es nicht mehr aus. „Du wolltest reden?“ Marco räuspert sich und ich blicke zu ihm. Seinen Gesichtsausdruck kann man am besten mit zerknirscht beschreiben. „Du hast Ivan ja kennengelernt… Er ist früher mein bester Freund gewesen, mein Sandkasten-Buddy. Aber dann in der Pubertätsphase hat er sich mit den falsche Leuten angefreundet und ist in diese Gang geraten. Ich kann leider nicht ins Detail gehen, aber es hat viel mit Waffen, Drogen und Kriminalität zu tun. Irgendwann hatte er große Schulden beim Boss, die aber selbst nicht bezahlen konnte. Da kam ich ins Spiel. Seither helfe ich Ivan aus, obwohl wir eigentlich keine richtigen Freunde mehr sind. Aber gegen Iron kommt man nur an, wenn man nicht allein ist.“ Marco holt tief Luft und sieht mich dann an. Seine Augen sind dunkel, sein Gesichtsausdruck traurig und ich strecke die Hand nach seiner aus. „Es tut mir leid, dass ich dich so von mir gestoßen habe“, murmelt er und ich drücke einfach seine Hand. „Danke, dass du mir das erzählt hast.“ Ich lächele ihm aufmunternd zu und endlich fügen sich die einzelnen Puzzle-Teile zu einem ganzen Bild zusammen. Dennoch klingt die Story ein wenig wie aus einem schlechten Actionfilm. Aber das werde ich jetzt nicht ansprechen. Wir sitzen eine Weile so da, bis irgendwann eine andere Frau das Zimmer betritt, eine jüngere Version von Mariella. Das ist dann vermutlich Rosa. Ihre dunklen Locken sind zu einem hohen Pferdeschwanz gebunden, die braunen Augen strahlen pure Freude aus und ihr Mund ist zu einem Lächeln verzogen. Sie hat die gleichen Grübchen wie Marco. „Hallo, Liebes, ich bin Rosa. Du bist Elise, nicht wahr?“ Ich nicke und sie fordert uns dazu auf, nach unten zu kommen, denn das Essen sei fertig. Nachdem sie das Zimmer verlassen hat, zieht Marco mich näher zu sich und haucht mir einen Kuss auf die Lippen. „Verzeihst du mir?“, wispert er und ich bejahe seine Frage, indem ich ihn richtig küsse. Erst dann gehen wir nach unten in die Küche. Dort duftet es köstlich nach frischen Kräutern und Tomaten. Auf dem Tisch steht eine große Platte mit diesen Enchidings-Teilen. Beim Essen erfahre ich dann auch, worum es sich handelt. Ähnlich wie ein Wrap enthält die mit einem Tortilla-Wrap umwickelte Enchilada eine leckere Füllung aus Hackfleisch und Tomatencreme. Ich versuche, nicht zu laut zu stöhnen, als ich den ersten Wrap im Nu aufesse, denn es ist einfach nur himmlisch. „Schmeckt es dir, ricura?“, fragt Mariella und strahlt mich an. Ich bringe ein „Ja“ hervor, dann beiße ich wieder ab und versinke im Paradies des spanischen Essens. Die Stimmung am Tisch ist ausgelassen, Marco und seine Mutter ziehen sich gegenseitig auf, Mariella erzählt von den neuesten Ereignissen in ihrer aktuellen Telenovela, eine Art spanische Reality-Soap. Ich vermisse diese Zeit, als es bei uns zu Hause genauso ablief, als wir noch eine richtige Familie gewesen sind.