Neben dir sein (Kap. 21)
Die nächsten Tage lässt sich Marco nicht in der Schule blicken und ich komme fast um vor Sorge. Auf meine Nachrichten, die ich trotz meines Schwurs, ihn nicht mit SMS zu bombardieren, versende, reagiert er nicht. Erst am darauffolgenden Donnerstag, fast zwei Wochen nach seiner kleinen „Party“ mit Ivan kommt er wieder zur Schule, mit einem strahlenden Lächeln, dass nichts Negatives vermuten lässt. Als er mich sieht, schlendert er zu mir und will mich küssen, aber ich stoße ihn, so stark ich kann weg. Ich bin in diesem Moment unfassbar wütend, weil ich sein Verhalten einfach nur unverschämt und erniedrigend finde. Erst ignoriert er mich tagelang und dann möchte er so tun, als wäre alles in bester Ordnung. Das kann er sich aber ordentlich abschminken. „Was ist denn los?“, fragt er, sein Gesichtsausdruck lässt sich am besten mit dem Wort „verdattert“ beschreiben. Ich schnappe nach Luft und bin mir bewusst, dass ich dabei bin, eine Szene zu veranstalten, bei der die halbe Schule zugucken wird, weshalb ich so neutral wie möglich sage: „Mir nach!“ Marco folgt mir schnellen Schrittes, anscheinend hat er kapiert, dass es eine ernste Lage ist. Wir bleiben hinter dem Eingang zur Cafeteria stehen, welcher um diese Uhrzeit noch ziemlich leer ist. Der perfekte Standort für unser Gespräch also. Marco wiederholt seine Frage, was denn los sei und ich atme mehrmals tief ein und aus, um ihn nicht anzubrüllen. „Was los ist? Du warst anderthalb Wochen wie vom Erdboden verschluckt! Weißt wie viele Sorgen ich mir gemacht habe? Und dann spazierst du hier einfach rein und bist der Macho in Person! Pff, nicht mit mir. Das kannst du nicht bringen!“ Die letzten Worte meines improvisierten Monologs spucke ich beinahe aus, dann verschränke ich die Arme vor der Brust, bereit seine Erklärung zu hören. Resigniert hebt er die Hände und sagt: „Es tut mir leid, Elise.“ Das war´s? Mehr kriege ich nicht nach tagelanger Stille? „Alles klar“, erwidere ich, dann drehe ich mich auf dem Absatz um und lasse Marco stehen. Diese Situation erinnert mich an eine meiner letzten Auseinandersetzungen mit Nick. Damals hatte er auch so dagestanden, die Hände in den Hosentaschen vergraben, ein reuevoller Blick, während ich ihn mit meinen Vorwürfen bombardierte. Er hatte auch nicht gerade Rede und Antwort gestanden. Aber das mit Marco schmerzt mich mehr. Ich habe vier Monate lang gebraucht, um endlich aufzutauen und jemanden rein zu lassen hinter die Schutzwand, aber Marco scheint es einfach nicht zu verstehen.
Ich laufe ihm mehrmals über den Weg, während der Pausen und auch in der Cafeteria beim Mittagessen, aber er startet keinen einzigen Versuch, mit mir zu reden. Vielleicht habe ich auch einfach zu viel in diese Situation hineininterpretiert, als da eigentlich ist. Ich bin enttäuscht, vor allem seinetwegen und wütend, aber eher meinetwegen. Vielleicht ist es ja besser so, rede ich mir während des Unterrichts ein und konzentriere mich dann so gut es geht auf die Aufgaben und Vorträge der Lehrer. Nach dem Unterricht fahre ich wie gewohnt nach Hause, erwarte aber nicht, was ich drinnen vorfinde. An unserem Küchentisch sitzen meine Mutter und Luise, Nicks Mutter. Ich stelle meine Tasche ab, entledige mich meiner Jacke und den Schuhen und trete dann in die Küche. Die beiden trinken Kaffee, auf einem Teller liegen Muffins und ein letztes Stück Käsekuchen. „Oh, hallo Schätzchen“, grüßt mich Mama, als ihr Blick auf mich fällt. Auf ihren Lippen liegt ein aufmunterndes Lächeln. „Setz dich doch zu uns.“ Unsicher, ob Luise mich überhaupt dabeihaben möchte, nehme ich Platz und starre auf meine Hände. „Hallo, Elise“, bringt sie hervor und ich sehe auf. Ein zaghaftes Lächeln bahnt sich seinen Weg durch die kalte Fassade, mit der sie mich in den letzten Monaten gestraft hat. „Wie geht es dir?“, möchte sie wissen und ich bringe ebenfalls ein Lächeln zustande. „Ganz okay, wie kommt ihr denn zurecht?“ Luise greift nach ihrer Kaffeetasse und nimmt einen Schluck, bevor sie mir antwortet. „Mit der Zeit ist es etwas besser geworden, aber ich kann sein Zimmer nicht betreten, ohne zu weinen. Es ist schwer.“ In dem Moment weiß ich, dass Luise mich nicht hasst, sondern es sie schmerzt, mich anzusehen, ohne ihren Sohn an meiner Seite zu wissen. Ich greife nach ihrer Hand und drücke sie leicht, um ihr mein Beileid zu zeigen, aber auch, dass ich sie verstehen kann. Luise hat sich schnell wieder gefasst. „Ich wollte dich fragen, ob du dich bereit dazu fühlst, mit mir sein Zimmer auszuräumen. Es wird langsam Zeit, oder?“ Mittlerweile sind fast sechs Monate vergangen und ich weiß, dass sie Recht hat. Irgendwann müssen wir es sowieso hinter uns bringen, denn sein Zimmer kann nicht ewig als Schrein bleiben. Um ihre Frage zu beantworten, nicke ich und diesmal ist Luise diejenige, die meine Hand drückt.