Neben dir sein (Kap. 10)
Den nächsten Tag lässt meine Mutter mich zu Hause verbringen, entschuldigt sich aber zehntausend Mal bei mir, dass sie leider nicht bei mir bleiben kann wegen eines überaus wichtigen Termins. Ich zucke bloß mit den Schultern und lasse sie ohne große Widerworte das Haus verlassen. Mich noch mehr betüdeln lassen von ihr, will ich nicht, das gestern Abend ist genug gewesen. Ich bleibe in meinem Bett liegen und greife nach meinem Handy. Keine neue Nachricht. Mein Magen zieht sich etwas zusammen. Was habe ich denn erwartet? Dass Marco mir noch schreibt, nachdem ich ihm klar zu verstehen gegeben habe, dass ich nichts mit ihm zu tun haben will? Warum interessiert es mich überhaupt, ob er mir schreibt oder nicht? Ich pfeffere mein Handy auf die andere Seite des Bettes und beschließe, dass es besser wäre, es für den Rest des Tages dort liegen zu lassen. Unten steht ein Teller mit Haferbrei für mich bereit. Auf dem Brei hat sich bereits eine Kruste gebildet und das ganze hat eine eher unappetitliche Farbe. Ich nehme die Schüssel und kratze den Inhalt in den Mülleimer. Dann greife ich mir eine Brotscheibe und belege diese mit einer Scheibe Käse. Alles andere räume ich in die zugehörigen Schränke oder den Kühlschrank. Die Leere und damit verbundene Stille in dem Haus macht mich wahnsinnig und unendlich traurig. Früher war alles so lebendig, selbst wenn niemand zu Hause war. Jetzt machen mich die vier tristen Wände, in denen ich wohne, verrückt. Ich schlucke den letzten Bissen herunter und wandere danach ziellos durchs Haus. In der Tür zu Papas Arbeitszimmer bleibe ich stehen. Die Papiere sind ordentlich auf seinem Schreibtisch gestapelt, alles hat seinen Platz. Mein Vater ist in dieser Hinsicht der totale Perfektionist und kriegt jedes Mal einen Anfall, wenn irgendetwas verschoben wurde und somit nicht an seinem Platz liegt. Ich trete in den Raum und setze mich hinter den Tisch. Sein Stuhl ist groß und bequem, ich kann mir vorstellen, wie er sich hier drin zurücklehnt und seine Arbeit verrichtet. Ich öffne eine der Schubladen und mein Atem stockt. Dort liegt eine Akte auf der mein Name steht. Ich nehme sie heraus und erstarre. Darunter ist exakt dieselbe Mappe, nur mit einem Foto von Marco auf der Titelseite.
Mein Atem geht stoßweise, ich weiß ehrlich gesagt nicht, was ich denken und wie ich diese ganze Geheimniskrämerei finden soll. Aber ich bin neugierig geworden, weshalb ich mir zuerst meine Akte nehme und das Band außen löse. Im Inneren befindet sich ein fingerbreiter Papierstapel, ganz oben eine Art Steckbrief von mir. Keine Informationen, die mir unbekannt vorkommen. Mein Name, Alter, meine Größe, Haar- und Augenfarbe. Ganz unten auch meine Blutgruppe und einige Angaben zu meiner Schullaufbahn und meinen Hobbys. Ich nehme diesen Zettel vom Stapel und augenblicklich füllen sich meine Augen mit Tränen, wie auf Knopfdruck. Derselbe Steckbrief nur von Nick. Ich könnte beinahe alles davon auswendig aufsagen, bis auf die Blutgruppe vielleicht. Wir hatten dieselbe, was für ein Zufall. Typ 0 positiv. Ich blinzele die Tränen weg und konzentriere mich darauf, weiterzublättern. Ein Protokoll des Abends, an dem Nick gestorben ist und danach ein Protokoll eines Abends, an dem wir auf einer Party gewesen sein sollten. Ich erinnere mich nur an Bruchstücke dieser Nacht, aber kann diese nicht in Verbindung mit seinem Tod bringen. Hinter den Protokollen befinden sich Steckbriefe meiner Eltern und zum Schluss ein Umschlag, der aussieht, als würden Fotos darin sein. So einen bekommt man immer, wenn man Fotos im Drogeriemarkt ausdruckt. Ich greife nach dem Umschlag und nehme die Aufnahmen heraus. Nick und ich auf der Schaukel in seinem Garten. Das Bild ist im letzten Jahr entstanden, bevor Nicks Vater die Schaukel abgerissen hat, weil sie niemand brauchte. Seine Meinung, nicht unsere. Ginge es nach Nick und mir, hätten wir jeden Tag darauf sitzen und einfach reden können. Das zweite Bild zeigt Nick alleine, wie er im Supermarkt steht und für seine Mutter einzukaufen scheint. Er trägt meinen Lieblingspulli und die Beanie, die ich ihm zum Geburtstag geschenkt habe. Die Strickmütze ist dunkelgrau und auf der Innenseite, wo es keiner wirklich sehen kann ist mein Name eingraviert. Er hat die Mütze beinahe jeden Tag getragen, als Talisman wie er zu sagen pflegte. Das nächste Foto ist eine Aufnahme von mir, wie ich in unserem Garten auf einer Liege sitze, mich sonne und in einem Buch blättere. Ich habe nicht wirklich gelesen, weil ich so abgelenkt davor gewesen bin, Nick beim Schwimmen im Pool zuzusehen. Das vierte und letzte Bild zeigt uns beide, wie wir vor einem hell erleuchteten Haus stehen, in dem höchstwahrscheinlich diese Party zu Gange ist, und ziemlich sauer aussehen. Insbesondere mein Gesicht ist vor Wut verzerrt und ich gestikuliere wild mit den Händen. Nick hat die Arme vor der Brust verschränkt und eine Augenbraue hochgezogen. Ich kann mich beim besten Willen nicht daran erinnern, mich jemals so mit ihm gezofft zu haben. Ich kann es nicht aufhalten und die Tränen beginnen zu fließen. Hastig verstaue ich die Bilder zurück in dem Umschlag und sortiere die Blätter so, wie sie vorher in dem Ordner lagen. Meine Neugier bezogen auf Marcos Mappe ist noch größer, aber ich will im Moment nicht wissen, was er zu verbergen hat. Ich lege die beiden Mappen zurück in Papas Schreibtisch und verlasse sein Arbeitszimmer. Genau in dem Moment, in dem ich mein Zimmer wieder betrete, höre ich den Schlüssel in der Haustür. Mama muss zurück sein. Ich atme ein paar Mal tief ein und aus und wische mir die Tränen von den Wangen und aus den Augenwinkeln. „Hi, Mama“, rufe ich und komme strahlend die Treppe herunter. Aber innerlich toben die Gedanken nur so in mir und drohen, die heile Welt, die ich bisher gekannt habe, zu zerstören.