Neben dir sein (Kap. 1)
Markus sieht mich über den Rand seiner Brille an, sein Blick ist forschend und durchdringend. Ich schaue ihm in die Augen, aber er lässt sich nicht davon beirren, guckt weiterhin in mein Gesicht, so als würde er versuchen, meine Gedanken zu lesen. „Wie ist es dir diese Woche ergangen?“, fragt er und legt den Kopf leicht schief, wie ein Hund, der um Futter bettelt. Nur dass Markus um meine Worte, die Wahrheit bettelt. Er hat so eine beruhigende und väterliche Art an sich, die es zulässt, dass ich mich in seinem Sprechzimmer sehr wohl fühle, dennoch rede ich nicht mit ihm über den Grund, aus dem ich hier bin. Vielleicht wird dieses Gefühl aber auch durch die gemütliche Couch mit den vielen bunten Kissen hervorgerufen. „Mir geht es gut“, antworte ich, mit einem dicken Grinsen auf dem Gesicht. So läuft es jeden Freitag ab, Markus versucht mich zum Reden zu bringen mit seiner netten Art und ich speise ihn mit langweiligen Erzählungen und Halbwahrheiten ab. Er lässt es zu, schließlich kriegt er viel Geld für diese eine Stunde, die ich bei ihm absitze. Meine Eltern sind der Grund, warum ich jeden Freitagnachmittag hier in diesen vier Wänden verbringe, anstatt wie andere Leute in meinem Alter feiern zu gehen und mich zu besaufen. „Ich verstehe, dass es dir schwer fällt, über das Geschehene zu sprechen, aber genau dafür bist du hier und du kannst mir vertrauen, dass weißt du doch, oder?“ Ich nicke, weiß aber genauso gut wie er, dass ich sein Vertrauen nicht nutzen werde, um über die vergangenen Monate zu sprechen. Markus hat keine Uhr an seiner Wand hängen, wahrscheinlich damit seine Patienten nicht schauen können, wann die Stunde endlich vorbei ist. Mein Handy rauszuholen wäre jetzt sehr unhöflich, wobei ich denke, dass Markus mich nicht rügen würde deswegen. Er ist ein netter Kerl, aber ich kann einfach keine Worte zu der Vergangenheit raus bringen, wenn ich auf diesem Sofa sitze. Auf dem kleinen Glastischchen vor mir steht ein roter Keramikteller mit selbstgebackenen Haferkeksen drauf, Markus hat mir direkt am Anfang der Stunde welche angeboten. Ich hatte jedoch die leise Ahnung, dass das eine Falle gewesen ist, um mich zum Reden zu bringen. So von wegen: „Du hast meinen Keks gegessen? Jetzt musst du mir deine dunklen Gedanken geben!“ Markus wendet den Blick von mir und meinem stummen Dasein ab und betrachtet stattdessen das leere Blatt vor ihm. Ich nerve ihn vermutlich mit meiner gelangweilten Art und er wünscht sich nichts sehnlicher als zu seiner Familie nach Hause zu fahren. Ich bin freitags seine letzte Patientin. „So, Elise, die Stunde ist für heute beendet und ich hoffe wirklich, dass du bald die Worte finden wirst, um über das Geschehene zu sprechen. Ich wünsche dir ein schönes Wochenende.“ Jede Woche beendet er die Stunde mit denselben Worten, obwohl er weiß, dass ich meine Meinung zu dem Sprechen nicht ablegen oder gar ändern werde. „Tschüss“, murmele ich beim Verlassen seines Büros und gehe schnellen Schrittes den Flur entlang zur Tür. Draußen bläst mir ein eiskalter Wind entgegen und ich ziehe meinen Mantel fester um mich. Zuhause angekommen wartet meine Mutter bereits auf mich. „Wie war es bei Dr. Phillis?“, erkundigt sie sich und nimmt einen Schluck aus ihrer Teetasse. „Gut“, lautet meine Antwort und ich schäle mich aus meiner Jacke, dem Schal und der Mütze. „Ich habe dir noch etwas von dem Auflauf aufgehoben, soll ich es warm machen?“ Ich spähe in die Küche, in der sie sitzt und nicke. Ich habe zwar keinen wirklichen Hunger, aber besser ich esse jetzt etwas um mir meine Mutter und ihre Fragen vom Hals zu schaffen. „Gut, dann geh doch mal Hände waschen, Schätzchen!“, ruft sie, während ich bereits die Treppe hoch laufe. Seit dem Vorfall vor vier Monaten lässt sie mich fast nie alleine. Ich habe Hausarrest, auch wenn meine Eltern es nicht so nennen und mich damit auch nur beschützen wollen, und hocke jeden Tag mit ihnen auf einem Haufen. Ich ziehe meine Straßenklamotten aus und tausche sie gegen eine ausgebeulte Jogginghose und eines seiner T-Shirts. Es ist das mit dem ACDC Logo vorne auf der Brust. Es riecht nicht mehr nach ihm und ich traue mich nicht, seine Eltern zu besuchen. Sie beschuldigen mich wahrscheinlich für seinen Tod.
„Elli, Essen ist fertig!“, ruft meine Mutter von unten und ich lasse meine kreisenden Gedanken in meinem Zimmer und gehe nach unten, wo es nach Käse und Gemüse riecht. „Nun, erzähl mal, wie war dein Tag heute?“ Ich schaue auf den Teller vor mir, welcher beladen ist mit dampfendem Auflauf und lege mir meine Antwort im Kopf zurecht, eine, die möglichst wenig von meinem wahren Tagesablauf preisgibt und nur das erzählt, was sie auch hören möchte. „Es war gut, wir haben unsere Deutschklausur wiederbekommen, ich habe 7 Punkte.“ Das entspricht tatsächlich der Wahrheit und ich hoffe, dass meine Mutter nicht noch weiter nachhakt. „Wo ist Papa?“, frage ich und schiebe mir eine Gabel mit Kartoffeln in den Mund. Der Blick meiner Mutter verdunkelt sich etwas und sie sieht schnell zur Seite. „Ach, er ist noch immer bei der Arbeit.“ So sehr Mama versucht in meiner Nähe zu sein und mich auf jede erdenkliche Art und Weise zu bemuttern, so sehr geht Papa mir aus dem Weg und verschwindet in Bergen von Arbeit. Es versetzt mir jedes Mal ein Stich ins Herz, wenn ich sehe, wie traurig es Mama macht. Es ist meine Schuld, ich weiß das auch, aber ich möchte so tun, als wäre all das nicht geschehen. Ich wünsche ich könnte Nicks Familie wieder in die Augen sehen und mit ihnen wieder so dicke sein, wie auch vor vier Monaten. Ich wünschte dieses Ereignis hätte keinen Schnitt in unsere Familie gemacht. Aber es hilft eben nicht seine Wünsche zu äußern und darauf zu hoffen, dass etwas passiert. Vergangenes kann man nicht ändern oder rückgängig machen, leider. „Er kommt bestimmt bald“, murmele ich und esse noch ein bisschen von dem Gratin. Mama verzieht ihren Mund zu einem halbherzigen Lächeln und fragt: „Schmeckt es dir denn, Liebes?“ Ich nicke bloß und beschäftige mich dann mit essen.