Blaue Tür (Kurzgeschichte)
Ich mag mein neues, blaues Kleid. Es ist schön, wie bei einer Prinzessin. Mama hat es mir gekauft und gesagt, ich sehe aus wie Cinderella aus dem Disneyfilm. Jetzt gerade stehe ich draußen in unserem Garten, mit dem neue Baumhaus, das Papa für mich gebaut hat, und schaue dem großen, langen Auto dabei zu, wie es in unserer Straße stehen bleibt. Auf der Seite ist eine Sonne abgebildet und ein gelber Schriftzug, aber ich kann noch nicht lesen. Wir haben im Kindergarten bis jetzt nur das „A“ und das „B“ kennengelernt. Zwischen den gelben Buchstaben sehe ich aber keinen der beiden. Ich frage mich, wer in diesem riesigen Auto drinsitzt. Vielleicht kriegen wir ja neue Nachbarn. Mama hat zu Papa gesagt, dass neue Leute in das Haus mit der blauen Tür ziehen. Dann habe ich vielleicht ja jemanden, mit dem ich in meinem neuen Baumhaus spielen kann. Susi ist nämlich weggezogen und jetzt wohnen nur noch alte Leute in unserer Straße. „Charlotte! Komm essen!“ Ich möchte jetzt nicht essen. Zwei Männer in gelben Jacken sind aus dem Auto ausgestiegen und haben den hinteren Teil geöffnet. In dem Auto stehen ganz viele Möbelstücke, Tische, Stühle, Lampen. Die Männer fangen an, die Sachen auszupacken und in das Haus mit der blauen Tür zu tragen. „Charlotte!“ Mama klingt ungeduldig. Sie mag es nicht, auf mich zu warten. Ich kann ja schnell etwas essen und dann wieder gucken, wer in dem Haus mit der blauen Tür jetzt wohnt.
Nach dem Essen, es gab Brokkoli (iih), stehe ich wieder in unserem Garten. In dem Garten neben uns steht ein kleiner Junge, er hat blonde Haare und trägt eine blaue Latzhose. „Hallo, wer bist du?“, rufe ich und lege den Kopf schräg. Er ist neu hier, die Möbel aus dem gelben Auto gehören bestimmt ihm. Er dreht sich zu mir um und grinst breit. Ihm fehlen zwei Zähne, er sieht echt süß aus. Vielleicht wird er ja mit mir in den Kindergarten gehen. „Ich bin Jonas“, sagt er und kommt zu mir an den Zaun. Er hat auch Sommersprossen auf der Nase, wie ich. Mama sagt immer, die Sonne hätte mich geküsst. Die Sonne hat auch Jonas geküsst. Er hat nämlich ganz viele davon. „Möchtest du in meinem Baumhaus spielen?“, frage ich. Er nickt eifrig, rennt aber zuerst ins Haus, um seine Mama zu fragen. Wir spielen den ganzen Tag zusammen bei uns im Garten und auch in meinem Baumhaus. Jonas ist mein neuer bester Freund.
„Charlie? Hörst du mir überhaupt zu?“ Ich reiße mich von seinen Lippen los und richte meine Aufmerksamkeit wieder auf seine Augen. Er hat irgendwas von Autos und einem neuen Videospiel erzählt. „Ja, klingt echt interessant“, murmele ich und hoffe, dass er mich nichts zu dem Gesagten fragt. „Ach ja? Und wie heißt mein neues Auto?“ Ich beiße mir auf die Lippe und verfluche meine Gefühle, die total fehl am Platz sind. Jonas ist nur mein bester Freund. Er will nichts von mir. Blödes Herz. „Sorry, hab dir nicht zugehört“, gebe ich zu. Er beginnt, von vorne zu erzählen und ich wende all meine Kraft an, um mich ja auf seine Erzählung zu konzentrieren. Letzte Woche habe ich Jonas gesagt, wie ich für ihn empfinde, aber als er dann gefragt hat, ob das ein Scherz ist, habe ich meine Worte mit einem Lachen kaschiert und so getan, als wäre es tatsächlich einer. Aber ich kann meine Gefühle nicht einfach so abstellen. Also muss ich jetzt damit leben, dass mein bester Freund auch nur das für mich bleiben wird. Nur mein bester Freund und nicht mehr. Ich habe versucht, mit meiner Mama darüber zu sprechen, aber sie hat mich nur angelächelt und gesagt: „Du bildest dir das alles nur ein, Charlotte. Hast du deine Matheaufgaben schon gemacht?“ Sie nimmt meine Freundschaft zu Jonas nicht ernst und drillt mich darauf, mich nur auf die Schule zu konzentrieren. „Ich muss nach Hause“, sage ich, nachdem Jonas seinen Bericht beendet hat und umarme ihn entschuldigend. Gott, er riecht so gut. Ich atme tief durch und laufe dann nach Hause. Die Tür steht seltsamerweise einen spaltbreit offen. Ich betrete den Flur und ziehe meine Sneaker aus. Die lauten Stimmen meiner Eltern sind aus dem Büro meines Vaters zu hören. „Ich kann nicht mehr! Ich kann einfach nicht mehr!“, schreit meine Mutter und ich schlucke tief. Diese Streitereien gehen jetzt schon ein halbes Jahr so. Und meine Mutter macht meinem Vater jedes Mal neue Vorwürfe. Er arbeitet zu viel, er bringt zu wenig Geld ins Haus, er unterstützt sie zu wenig. Alles endet damit, dass sie schreit, wie wenig sie es in unserem Haus noch aushält. Aber jedes Mal sind es nur leere Worte.
Bis ich am nächsten Morgen aufwache und instinktiv weiß, dass etwas nicht stimmt. Ich tapse nach unten und finde meine Mutter nicht wie sonst am Küchentisch sitzen und ihren Kaffee schlürfen. Stattdessen liegt an ihrem Platz ein Briefumschlag. Ich laufe zu ihrem Stuhl und hole den Brief aus dem Umschlag. Ich lese ihre Worte, glaube aber nicht, was dort steht. Sie entschuldigt sich bei uns. Sie sagt, sie liebe uns trotzdem. Sie sagt, sie kann nicht mehr hier leben, weil sie mehr für sich möchte. Sie sagt, sie musste fortgehen. Tränen sammeln sich in meinen Augen. Ich lasse das Papier fallen und renne zur Tür. Ich reiße die Tür auf und schreie: „Mama!“ Mein Herz zerbricht in tausend Teile, als sie mir nicht antwortet. Sie ist nicht mehr da. Sie sieht nicht, wie ich meine Schule beende. Wie ich zum Altar schreite, mein erstes Kind bekomme. Wie meine Freundschaft zu Jonas zerbricht, weil er mich nicht so sehr liebt, wie ich ihn. Sie hat mich verlasse, weil sie mehr Freiheit gebraucht hat. Wir waren ihr zu wenig. Ihre Liebe für uns hat sie nicht halten können.