Being brave (Kurzgeschichte)
Ich starre meine Füße an, traue mich nicht auch nur ein Wort herauszubringen. Sie lachen, wie immer und ich kriege keinen Mucks heraus, auch das ist wie immer. Leider. Mein Papa sagt immer, dass ich nicht so ein stilles Mäuschen sein sollte, aber er hat gut reden. Er wird ja nicht von den anderen ausgelacht oder schikaniert, wenn er den Mund aufmacht. „Was stehst du schon wieder so rum? Trrra-a-aust d-du d-dich etwa nicht dein blödes Referat zu halten? Ha, will doch eh niemand hören!!!“ Tränen brennen in meinen Augen. Ich will nicht vor ihnen weinen, aber das passiert mir beinahe jedes Mal, wenn sie so über mich und mein Stottern herziehen. Doch statt irgendwas gegen sie zu sagen, starre ich weiterhin Löcher in meine roten Sneaker und wünsche mir, diese Stunde würde endlich durch das Klingeln beendet werden. „Melina? Bist du dann so weit?“, erkundigt sich meine Lehrerin, Frau Blaumann, und auch sie wünsche ich mir auf einen fernen Planeten. Sie sagt nie etwas gegen die blöden Kommentare oder das boshafte Gelächter der anderen, nimmt mich nie in Schutz. Meine Handflächen sind schon ganz schwitzig und ich bin mir sicher, dass mein Gesicht auch schon rot und fleckig ist. Ich kann meinen Mund jetzt nicht einfach aufmachen und nach diesem blöden Spruch meinen Vortrag über die Nationalsozialisten, die mich nur zu stark an die Leute aus meiner Klasse erinnern, runter stottern. Ich fühle eine dünne Schweißspur meinen Nacken hinunter rinnen. Meine Hände zittern leicht. „Jetzt mach doch, du dumme Kuh!“, brüllt Ben, einer der gemeinsten, widerlichsten Typen dieser Welt, und fängt sich dreckiges Gelächter seiner Freunde ein. Und wieder sagt Frau Blaumann nichts, sie ist genauso stumm, wie ich in diesem Moment. Eine einzelne Träne löst sich aus meinem Augenwinkel und ich senke meinen Blick noch weiter auf den Boden und meine Füße, die kleinen Ölflecken auf meinen Schuhen, die von meinem missglückten Versuch, in einer Frittenbude zu jobben, stammen. Ich möchte nicht, dass sie mich weinen sehen. „I-Ich tr-tr-trage euch he-eu-t-te et-t-was zu d-den Naz-zis vor.“ Ich lege eine kleine Pause ein, sortiere meine Karteikarten, lasse dabei aus Versehen einige fallen. Verdammt. Lautes Gelächter ertönt aus der hintersten Reihe, gefolgt von leiserem Gekicher, die Mädchen. „Du bist auch noch zu blöd die Karten zu halten! Hahaha!“ Ich fühle mich so klein vorne, alleine, isoliert von den anderen, die sich über mich lustig machen. Ohne ein Wort zu sagen, presse ich meine Lippen aufeinander und bücke mich, um die heruntergefallenen Karten aufzuheben. „Melina, fahre doch bitte mit deinem Vortrag fort, wir haben schließlich nicht ewig Zeit“, sagt die Lehrerin und ich balle meine Hände zu Fäusten. Ich kann nicht. Ohne ein weiteres Wort, zerknülle ich die Karten zu einer kleinen Kugel, befördere sie in den Mülleimer bei der Tür und schnappe mir meine Sachen, die zum Glück direkt in der ersten Reihe stehen. „Fräulein Bäumer!“, höre ich noch, bevor ich die Tür hinter mir zuknalle. Wie oft ich mir diese Sprüche und Beleidigungen schon anhören musste und niemand hat mir geholfen. Ich steuere die Damentoiletten an, überprüfe erst, ob jemand eine der Kabinen besetzt und lasse mich dann auf den geschlossenen Klodeckel fallen. Ich möchte nach Hause in mein Bett, aber der Tag ist noch lang und ich möchte Papa keine Sorgen machen. Wie nicht anders zu erwarten, rennt niemand mir nach und fragt, was los ist. So ist es eben, wenn man keine Freunde hat. Ich habe mich eigentlich schon damit abgefunden, aber dennoch zieht es jedes Mal in meinem Magen, wenn mir niemand zur Seite steht und ich ganz alleine den fiesen Worten meiner Mitschüler ausgesetzt bin. Papa weiß nichts davon, bis jetzt waren es ja auch nur Worte und nur einmal hat Ben mich geschubst, als ich ihm anscheinend im Weg stand. Aber diese Worte reichen aus. An manchen Tagen ist es schlimmer, als anderen, wie zum Beispiel heute. Heute ist einer der guten Tage. Später, als ich mich traue, die Toilette zu verlassen, ich weiß ehrlich gesagt auch nicht, wie viel Zeit vergangen ist, ist die Schule tatsächlich ziemlich leer. Ich schaue auf die Uhr an der Wand und stelle mit Erleichterung fest, dass die fünfte Stunde, und damit meine letzte, vorbei ist. Ich schlüpfe in meine Jacke, schultere die Tasche und marschiere aus der Schule. Scheiße, sie stehen draußen. Ben mittendrin. Sie rauchen und reden und ich hoffe, dass ich unbemerkt vorbeilaufen kann. „Ach, wen h-haben w-w-wir d-d-d-denn da?“, grölt Ben und grinst mich von oben herab an. „D-du L-l-loser!“ Ich ignoriere seine Rufe und stapfe davon. Von hinten höre ich Schritte, dann falle ich schon zu Boden. Über mir steht Ben und sein Gesicht ist wütend und verzerrt. „Ich habe mit dir gesprochen, du Schlampe!“, knurrt er und ich spüre seinen Fuß in meinen Rippen. Ein heftiger Schmerz durchfährt mich. Tränen schießen in meine Augen. „Lass es, Ben. Gleich kommt noch ein Lehrer“, höre ich einen seiner Mitläufer rufen. „Ha, sie hat es verdient. Keiner will sie hier haben!“, schreit Ben zurück und verpasst mir noch einen Stoß mit dem Fuß. Ich halte mir die Augen zu und kann mich kaum bewegen, bis ein lautes STOPP mich aufhorchen lässt. Ben lässt augenblicklich von mir ab und geht einige Schritte zur Seite, vermutlich in der Hoffnung, so seine Aktion von gerade zu vertuschen. Ich weine stumm und krümme mich vor Schmerzen auf dem Boden. „Melina? Bist du das?“, höre ich Frau Blaumann fragen, ihre Stimme klingt besorgt. Ich kann nur stumm nicken, höre aber, wie sie in ihren Stöckelschuhen auf mich zustackst. „Ist alles in Ordnung?“ Stumm schüttele ich den Kopf. Ben ist diesmal eindeutig zu weit gegangen, ich kann so nicht mehr weitermachen. Frau Blaumann runzelt etwas verwirrt die Stirn und sieht zur Seite. Wahrscheinlich hatte sie eher mit einem Nicken meinerseits gerechnet oder es sich zumindest erhofft. Ohne ein weiteres Wort, hilft sie mir mich aufzusetzen, wobei mir der leicht abseits stehende Ben ins Auge fällt. Warum ist der denn immer noch da? Ich an seiner Stelle wäre wahrscheinlich schon längst geflüchtet, auch wenn die Lehrerin mich gesehen hätte. „Lass uns zum Krankenzimmer gehen“, schlägt Frau Baumann vor, aber ich weigere mich und fordere einen Anruf bei Papa. Als er hört, was geschehen ist, ich verspreche ihm, alles weitere später ausführlich zu schildern, verspricht er sofort da zu sein. „I-Ich w-will mit-t dem D-d-direk-ktor sprechen“, verlange ich und hieve mich vom Boden. „Sicher, dass das nötig ist?“, möchte die Lehrerin wissen und traue meinen Ohren kaum. Ist sie blind, taub oder einfach nur blöd? Wenig später sitze ich auf einem Plastikstuhl in dem Büro des Schuldirektors, Papa neben mir und Bens Familie auf der anderen Seite. Ich habe bereits alles geschildert und auch Ben hat alles gestanden, nach einigem Hin und Her und viel Ausweichen und um den heißen Brei Herumreden. Seine Eltern wollen die Situation natürlich total runter spielen und ihren Sohn da schön rausreden, aber es ist offensichtlich, dass der Direx eher mir glaubt als Ben, der ein Zeugnis mit lauter Vieren und einem D im Sozialverhalten hat. Papa hält die ganze Zeit über meine Hand gedrückt und ich fühle mich sofort geborgen und sicher. Ich bin stolz auf mich. Ich habe endlich den Mund aufgemacht und mich ausgesprochen. Ich habe erzählt, was mich schon seit Jahren belastet und von dem ich mich immer runtergezogen gefühlt habe. Ich habe es wirklich geschafft mich meinen bösen Geistern zu stellen. „Ben, so ein Verhalten dulden wir an dieser Schule nicht. Ich suspendiere dich hiermit für eine Woche vom Unterricht, erwarte aber auch eine angemessene Entschuldigung an Melina bevor du gehst“, verkündet Herrn Mejer und straft Ben mit einem strengen Blick. Seine Eltern sitzen enttäuscht auf ihren Stühlen und schauen auf ihre Schöße. Ben schaut total zerknirscht drein und ist ganz rot im Gesicht. „Ich, es tut mir wirklich sehr leid, dass ich dich so behandelt habe. Das wird nie wieder vorkommen.“ Ich weiß, dass Ben seine Worte nicht von ganzem Herzen sagt, aber das ist mir in dem Moment auch egal. Ich habe endlich meine Stimme gefunden.