Neben dir sein (Kap. 36)
Ich versuche, mich bei Marco zu melden, mich zu entschuldigen. Ich versuche, mit ihm darüber zu reden, was passiert ist. Marco blockt meine Versuche ab, ignoriert mich auf den Schulfluren und nimmt meine Anrufe nicht an. Trotz des Willens, ihn zum Reden zu bringen, gebe ich nach einer Weile auf, weil ich merke, dass er nicht interessiert daran ist, anzuhören, was ich ihm zu sagen habe. Mein Vater setzt sich nachmittags immer öfter mit mir zusammen, um mit mir über die vergangenen Monate zu sprechen und darüber, wie es jetzt weitergehen wird. Die lang ersehnte Entschuldigung dafür, dass er mich beinahe aus seinem Leben gestrichen hat, erreicht mich, als er abends, zwei Wochen nach der Verhaftung, in mein Zimmer kommt. „Els? Kann ich reinkommen?“, fragt er, sein Blick ist unsicher, während er noch im Türrahmen steht. „Komm rein.“ Ich mache ihm auf meinem Bett Platz, rücke alle Kissen gerade und bin irgendwie ein klein wenig nervös. Es ist bloß Papa, rede ich mir ein und atme tief durch. Kein Grund zur Panik. Zunächst sitzen wir schweigend nebeneinander, den Blick auf die kahle Stelle an der Wand gerichtet, wo einst die Fotocollage von Nick und mir gehangen hat. „Els, du kannst dir nicht vorstellen, wie leid es mir tut. Ich habe dich in der für dich schweren Zeit allein gelassen, obwohl du unsere Unterstützung am meisten gebraucht hast.“ Papas Stimme bricht, er meidet meinen Blick und starrt weiterhin auf die Wand. „Papa…“ Er hebt die Hand, wie um mir zu zeigen, dass er noch nicht fertig ist, mit reden. „Als ich erfahren habe, was in dieser Partynacht geschehen ist, ich… ich konnte dir einfach nicht mehr in die Augen sehen, weil ich mich so dafür geschämt habe, die nicht beschützt zu haben in dem Moment. Ich habe deine Sicherheit in Nicks Hände gelegt und ich bereue diese Entscheidung. Nick war ein guter Kerl, aber ich bin dein Vater. Ich hätte dich beschützen sollen.“ Wie so oft in letzter Zeit, laufen Tränen über meine Wangen und ich kann nichts dagegen tun. „Du hast nichts falsch gemacht, Papa“, flüstere ich und sehe ihn an. Auch in seinen Augen glitzern die Tränen. Ich rücke näher zu ihm und nehme meinen Vater in die Arme. Wir klammern uns aneinander wie zwei Ertrinkende. „So, und wenn das jetzt glücklicherweise aus dem Weg geräumt ist, dann erzähl mir doch mal von diesem Marco.“ Ein amüsiertes Zucken umgibt Papas Lippen, die Tränen hat er weggewischt. Nachdem ich mit meiner Erzählung geendet habe, lächelt mein Vater nicht mehr, sondern sitzt grübelnd auf der Bettkante und versucht, Marcos Verhalten nachzuvollziehen. „Also, ich kann ja verstehen, dass es ihn verletzt hat, dass sein bester Freund jetzt im Gefängnis sitzt, aber es ist ja für eine schlimme, für eine gravierend schlimme Tat.“ Ich nicke. „Weißt du was? Du fährst jetzt zu ihm und stellst den jungen Mann zur Rede. Verstanden?“ Ich bin ein bisschen verwirrt über Papas plötzlichen Tatendrang, dennoch willige ich ein und ziehe mir statt der ausgeleierten Jogginghose mit dem Fettfleck auf dem Oberschenkel, eine dunkle Jeans an. Den Sweater von Nick tausche ich gegen eine weinrote Bluse aus und gehe dann nach unten. Meine Mutter hantiert in der Küche und wirft mir nur ein kurzes Lächeln zu, als ich die Stiefel anziehe und meine Jacke überwerfe. Draußen ist es kalt, der Wind sorgt dafür, dass ich eine Gänsehaut und rote Wangen bekomme. Als ich an Marcos Tür klingele, bin ich mir nicht sicher, was ich zu ihm sagen will, falls er mich überhaupt reden lässt. Doch meine Sorgen verblassen, als ich das besorgte Gesicht seiner Mutter erblicke, die mir die Tür öffnet. „Oh, Elise. Hallo.“ Sie lässt mich herein. „Was ist mit Marco?“, frage ich, meine Stimme zittert. „Setz dich, mein Engel.“ Ihre hoffnungslose Miene macht mir Angst. „Schätzchen, du weißt, dass Marco in einer Gang war und als diese verhaftet wurde, konnte der Anführer, der Boss, wie alle sagen, entfliehen. Er hat Marco aufgespürt, als er erfahren hat, dass er als Einziger freigesprochen wurde, ist er ausgerastet und hat meinen kleinen hijo windelweich geprügelt. Er hat ihn einen Verräter genannt.“ Mittlerweile erschüttern heftige Schluchzer seine Mutter. Sie sitzt zusammengekrümmt auf ihrem Stuhl, die Hände vor den Augen. Ich stehe auf und laufe zu ihr, um sie zu umarmen. „Wo ist er?“ Sie sieht mich aus ihren braunen, sonst immer warmen Augen an und flüstert mir den Namen des Krankenhauses zu. Ich renne so schnell ich kann nach Hause, schnappe mir ohne große Worte den Autoschlüssel vom Haken und springe ins Auto. Während der Fahrt sitze ich wie auf heißen Kohlen, weil ich mir nicht sicher bin, in welchem Zustand ich Marco antreffen werde. Wenigstens liegt er nicht auf der Intensivstation, wie ich wenig später, an der Empfangstheke erfahre. Ich folge der Wegbeschreibung der Empfangsdame und stehe kurze Zeit später vor Marcos Zimmer. Zaghaft klopfe ich an die Tür und öffne diese. Bei seinem Anblick treten mir erneut Tränen in die Augen. Ich schlage meine Hand vor meinen Mund, um nicht laut aufzuschluchzen. Marcos rechtes Auge und ist dunkellila und angeschwollen, an seiner Wange prangt ein großes Pflaster und seine Lippe ist aufgerissen und knallrot. Sein linker Arm ist eingegipst, um sein Bein schlängelt sich auch ein Verband. Sein anderer Arm ist mit blauen Flecken übersät. Ich kann mir vorstellen, wie der Rest seines bedeckten Körper ausschauen mag. Langsam gehe ich an seine Seite und nehme vorsichtig seine gipsfreie Hand. „Marco?“ Sein gesundes Auge öffnet sich einen spaltbreit und er sieht mich unverwandt an. „Oh, Marco. Es tut mir so unfassbar leid.“ Er drückt leicht meine Hand. „Schon.. okay“, presst er hervor. Mein Herz zieht sich zusammen bei seinem Anblick. Er sieht so hilflos, so zerbrechlich aus, wie er da in dem Krankenhausbett liegt und sich kaum bewegen kann, ohne Schmerzen zu haben. „Marco, ich liebe dich“, flüstere ich und streiche mit meinem Daumen über seine Hand. Ich kann hören, wie sein Atem stockt. „Du.. liebst.. mich?“ Ich schaue zu ihm, lächele und nicke. Seine lädierte Lippe verzieht sich zu seinem charmanten Lächeln. „Ich liebe dich auch, Elise.“