Neben dir sein (Kap. 25)
Die nächsten Wochen verbringen Marco und ich überwiegend zusammen. In der Schule laufen wir in den Pausen durch die Flure und reden, in der Mittagspause essen wir gemeinsam und nach dem Unterricht lädt er mich häufig zu sich ein. Mama scheint zufrieden damit zu sein, dass ich wieder mehr unter die Leute komme und beschwert sich auch nicht darüber, dass ich den Großteil meiner Freizeit nun bei Marco verbringe. Meinen Vater bekomme ich kaum noch zu Gesicht, wo er doch die meiste Zeit bei der Arbeit verbringt oder sich in seinem Büro einschließt. Immer wenn ich Marcos Familie betrachte, frage ich mich, wie unsere so sehr zerbrechen konnte. Wie hat Nick es geschafft, uns zu zerstören? Mit Marco habe ich noch kein Wort über Nick gesprochen, weiß aber auch nicht, ob es relevant ist, ihm davon zu erzählen. Immerhin ist Nick ein Teil meiner Vergangenheit, der mir immer wichtig sein wird. Bis jetzt hat es aber noch keinen passenden Zeitpunkt gegeben, um Marco davon zu erzählen.
„Ist alles okay?“, fragt er, während wir vor dem Schultor stehen und ich auf meine Mutter warte. Heute ist Familientherapie bei Marcus angesagt. Marco habe ich gesagt, ich könne heute nicht zu ihm kommen aufgrund eines wichtigen Familienessens. Er hat keine Ahnung, wie es um meine familiären Verhältnisse wirklich steht. Ich lasse ihn in dem Glauben, dass wir eine normale Familie sind ohne große Probleme und Streitereien. Da er noch nicht das Vergnügen hatte meine Eltern kennen zu lernen, denkt er also, ich sage die Wahrheit. Meine Mutter hupt genau in dem Moment und ich drücke Marco einen Kuss auf die Wange, bevor ich zum Auto laufe und wir uns auf den Weg machen. „Das ist aber ein wirklich gut aussehender Kerl“, seufzt meine Mutter und ich strafe sie mit einem genervten Blick. Man möchte solche Worte bezogen auf den eigenen Freund nicht aus dem Mund seiner verheirateten Mutter hören. Vor Marcus Praxis parkt bereits Papas Auto und er lehnt davor und tippt irgendetwas in sein Handy. Meine Mutter geht zu ihm, gibt ihm einen kurzen Kuss und dann laufen wir zusammen rein. Mein Vater nickt mir bloß kurz zu und ich tue es ihm gleich. Marcus ist heute besonders gut gelaunt und strahlt förmlich als er uns nacheinander begrüßt und uns die Hände schüttelt. Nachdem wir uns auf die Couch gesetzt haben, bietet er uns Tee an und seine selbst gebackenen Cookies. Mama greift höflich zu und komplimentiert ihn, indem sie seine Backkünste lobt. „So, wie geht es dir, Elise?“, erkundigt sich mein Therapeut und schenkt mir eines seiner aufmunternden Lächeln. „Ganz gut, schätze ich.“ Marcus nickt und kritzelt etwas auf sein Klemmbrett. So viel habe ich gerade nicht von mir gegeben, dass es sich aufzuschreiben lohnt. Er stellt meinen Eltern die gleiche Frage und wendet sich dann wieder mir zu. „Elise, deine Eltern und ich haben nachgedacht und sind zu dem Schluss gekommen, dass es für dich vielleicht hilfreich wäre, eine Hypnosesitzung durchzuführen, um wenigstens einen Teil der Erinnerung an die Nacht damals zurückzugewinnen.“ Er schaut mich lächelnd an. Mein Vater starrt auf seine schwarzen Lackschuhe, meine Mutter schenkt mir einen hoffnungsvollen Blick, der sagt: „Überleg es dir wenigstens.“ Bevor ich Marco kennengelernt habe, hätte ich höchstwahrscheinlich abgelehnt, ohne auch darüber nachgedacht zu haben. Aber jetzt scheint es mir wichtig zu sein, meiner Mutter ein Lächeln auf die Lippen zu zaubern, so wie er es bei seiner Mutter immer macht. Deshalb willige ich ein, bei der Hypnose dabei zu sein und Marcus vereinbart mit meinen Eltern einen Termin. Vielleicht werde ich die Entscheidung bereuen, spätestens wenn es so weit ist, aber gerade in dem Moment bin ich unfassbar stolz auf mich, dass ich meine inneren Barrieren überwunden habe und scheinbar bereit dazu bin, mich meinen Ängsten zu stellen.