Neben dir sein (Kap. 4)
Die Schulwoche vergeht wie im Flug und die Tage rauschen nur so an mir vorbei. Ich bekomme nicht wirklich mit, worum es in den einzelnen Unterrichtsstunden geht, interessiere mich aber auch nicht sonderlich dafür. Den sonderbaren Typen, Marco, habe ich seit unserem letzten Gespräch nicht mehr gesehen und hoffe, dass es auch dabei bleibt. Leider werden meine Gebete nicht erhört, denn als ich am Freitag aus der Schule trete, steht er dort und scheint auf mich zu warten. Sein Blick erhellt sich, als er mich sieht und durch sein Grinsen bilden sich Grübchen in beiden Wangen. „Na, Kleine? Bereit fürs Wochenende?“, fragt er und setzt sich in Bewegung, um mit mir mithalten zu können. „Ich heiße Elise“, verbessere ich, ich möchte nicht, dass dieser zwielichtige Fremde mir Spitznamen verleiht. „Okay, Kleine“, erwidert er und ich stelle fest, dass er das aus reiner Provokation tut. Ich beschleunige mein Tempo und hoffe, dass er versteht, dass ich keine Lust auf seine Gesellschaft habe, aber ihn scheint das überhaupt nicht zu stören. „Heut Abend steigt eine Party bei mir, hast du Lust?“, möchte er wissen und schenkt mir ein weiteres Grinsen. Seit dem Vorfall meide ich Partys und habe kein Interesse daran, dass wegen dieses Jungen zu ändern. Ich schüttele den Kopf und lasse ihn stehen. Das Auto meiner Mutter steht auf dem Parkplatz und ich flüchte mich hinein. „Markus, wir kommen“, sagt sie scherzhaft und wirft mir einen kurzen Seitenblick zu. Heute ist Gruppentherapietag. Papa trifft uns vor dem Praxisgebäude und gibt Mama einen kurzen Kuss, nachdem wir geparkt haben und ausgestiegen sind. „Hallo, Elise“, grüßt er mich, genauso förmlich, wie er es mit seinen Mandanten tut. Ich nicke ihm zu und wieder meldet sich das Stechen. Gefolgt von einem Ziehen im Magen. Wir gehen zur Eingangstür und ich drücke auf die Klingel. Der Summer ertönt und gemeinsam betreten wir die Praxis von Dr. Phillis. „Hallo Elise, Frau Marks, Herrn Marks“, begrüßt uns Markus und lächelt. „Heute ist ein wundervoller Tag, nicht wahr?“ Mein Vater verzieht seinen Mund und Mama lächelt verkrampft. Mich wurmt es, dass das der einzige Ort geworden ist, an dem wir eine richtige Familie sind. Nachdem wir auf der Ledercouch in seinem Sprechzimmer Platz genommen haben, greift Markus nach seinem Kugelschreiber und dem Klemmbrett. Schweigend betrachtet er uns, unsere verkorkste Familie. „Wie war diese Woche für euch als Familie?“, fragt er und mein Vater räuspert sich. „Ganz gut“, antwortet er. Ich bin nicht die einzige, die keine Lust auf diese Gesprächsrunden hat. Ich nicke zustimmend und hoffe, dass Markus uns diese Happy-Family-Nummer abkauft und nicht weiter nachhakt. Meine Mutter bleibt still und mustert stattdessen ihren Schoß. „Hm, Sybille, was sagen Sie zu dieser Frage?“ Verdammt, er hakt doch nach. Meine Mutter wendet sich ihm zu und versucht zu lächeln. „Ich habe am Montag Luise im Supermarkt getroffen“, murmelt Mama und ihre Wangen röten sich leicht. Sie mag es nicht, vor Papa über Luise zu sprechen. Er wird jedes Mal wütend, wenn er mitbekommt, wie sie sich unserer Familie gegenüber verhält. Er und Tomas, Nicks Vater haben immer noch Kontakt, zwar nicht so häufig wie früher, aber dennoch ab und zu. Luise dagegen hat Mama, ihre ehemalige beste Freundin, aus ihrem Leben verbannt. Und Papa ist damit nicht zufrieden. Er spricht manchmal mit Tomas über das Verhältnis ihrer beiden Ehefrauen, aber Tomas weiß auch nicht wirklich, was er dagegen tun kann. Nicks Eltern hätten sich beinahe getrennt nach dem unglücklichen Tod ihres Sohnes. Dann aber haben sie sich zusammengerissen, weil sie verstanden haben, dass er es so nicht gewollt hätte. Er hätte nicht gewollt, dass er der Grund für die Scheidung seiner Eltern sein würde. Papa schnaubt verächtlich und Markus zieht eine Augenbraue in die Höhe. „Warum reagieren Sie so, Robert?“, möchte er wissen und Papa verschränkt die Arme vor der Brust. „Ich finde es nicht okay, wie Luise sich gegenüber unserer Familie verhält. Meine Tochter ist nicht schuld am Tod ihres Sohnes, unsere Familie hat nichts damit zu tun.“ Mein Herz geht auf, als mein Vater das sagt und ich spüre meine Augen brennen. Bitte, nicht schon wieder. Ich habe in letzter Zeit genug geflennt. „Ach, Robert“, flüstert Mama und Markus sagt erst mal gar nichts. Er weiß, dass das ein intimes Thema für uns ist und versucht, das auch zu akzeptieren. Aber er muss eben seine Aufgaben als Therapeut erledigen, weshalb er fragt: „Was sagst du dazu, Elise?“ Meine Eltern beantworten Markus´ Fragen immer ehrlich und so, wie er es möchte, ich dagegen bleibe bei meinen Halbwahrheiten. „Ich finde es genauso.“ Ist ja eigentlich auch nicht gelogen, ich stimme meinem Vater tatsächlich zu, nur dass ich es eben nicht weiter ausführen möchte. Markus neigt bloß den Kopf zur Seite und sieht mich nachdenklich an. „Magst du mir sagen, warum du deinem Vater zustimmst?“, erkundigt er sich und tippt sich seinen Stift ans Kinn. Seine Brille rutscht ein Stück von seiner Nase. Er macht sich nicht die Mühe, sie an ihren Platz zurückzuschieben. Stattdessen lässt er mich nicht aus den Augen. Mama wirft mir einen kurzen Blick zu, während mein Vater die Wand anstarrt. „Ich muss auf die Toilette“, sage ich, stehe auf und rausche aus dem Sprechzimmer. Schnellen Schrittes gehe ich aus dem Raum, öffne die Tür zum Klo und schließe mich dort ein, bis die Stunde vorbei ist. Mama empfängt mich mit besorgtem Blick beim Auto, ich habe mich nicht einmal von meinem Therapeuten verabschiedet. „Was war denn plötzlich los?“, fragt sie zaghaft. „Ich hatte ganz plötzlich Blähungen“, murmele ich und stelle fest, dass Papas Auto nicht mehr auf dem Parkplatz steht. Der Kloß in meinem Hals wird größer und das Ziehen in meinem Magen stärker. Ich fühle mich eingeengt und erneut macht sich dieses klebrige Schuldgefühl in mir breit, wie widerliche Tentakel. Was hatte dieser Marco noch mal von einer Party gesagt? Vielleicht wird es ja Zeit, dass ich mich von meinen Vorhaben löse und mich meinen Dämonen stelle.