Schattenmädchen (Kap. 12)
Finn erwies sich als sehr facettenreicher Charakter. Mal überraschte er mich vor dem Schultor mit einem riesigen Strauß roter Rosen, schrie mich aber eine halbe Stunde an, weil ich diese in meinem Schließfach verstauen wollte, um sie nicht mit mir herumschleppen zu müssen. „Andere Mädchen wären dankbar, so einen Freund wie mich zu haben!“, zischte er mir ins Gesicht und ließ mich dann einfach stehen. Den ganzen restlichen Tag ignorierte er mich, wenn ich in seiner Nähe war, würdigte er mich keines Blickes. Als ich zum Ende des Schultages den Strauß aus meinem Spind holte, wartete er bereits dort auf mich und betrachtete mich mit einem prüfenden Blick. „Warum musstest du mich so provozieren?“, fragte er mich, seine Stimme hatte einen traurigen Unterton. Ich wusste nicht, was für eine Reaktion er von mir erwartete, aber er würde sicherlich nicht wollen, dass ich meinen Standpunkt erklärte. Also setzte ich einen reuevollen Blick auf und entschuldigte mich bei ihm. Auf seinen Lippen bildete sich ein zufriedenes Lächeln und er schloss mich in eine innige Umarmung. Dass die Rosen dabei an meine Brust gequetscht und die Dornen in meine Haut stachen, war ihm völlig gleichgültig. „Siehst du? Du musst mich nicht provozieren, dann wird alles gut“, wisperte er in mein Ohr. Von der Seite sahen wir einfach wie ein kuschelndes, glückliches Paar aus. Aber niemand wusste oder ahnte überhaupt, wie kaputt Finn mich machte. Ein halbes Jahr ging das schon so. Jeden Tag gab es irgendeine Kleinigkeit, die ihm an mir nicht passte und die dazu führte, dass er mich in der Öffentlichkeit zusammenstauchte, mich vor allen fertigmachte. Manchmal griff er auch nach meinem Arm, drückte so fest zu, dass mir Tränen in die Augen stiegen. Meine Tränen machten ihm nichts aus. Er zischte dann nur: „Reiß dich zusammen, eine Heulsuse kann niemand leiden.“ Es kam mir an manchen Tagen so vor, als würde er mich nicht lieben, sondern nur ein Opfer brauchen, das er quälen kann. Doch an anderen Tagen kamen seine lieben, süßen, fürsorglichen Seiten zum Vorschein, die mich jedes Mal dahin schmelzen ließen. Und egal wie doll er mir zuvor weh getan hatte, mit seinen Komplimenten, lieben Worten und romantischen Gesten schaffte er jedes Mal aufs neue, mich auf seine Seite zu ziehen. Nur merkte er nicht, dass es jedes Mal schwerer für mich war, ihm zu verzeihen. Die Tränen wegzublinzeln, den Schmerz auszublenden, seine dunklen Seiten zu vergessen. Er merkte nicht, dass mein Inneres von tausenden Rissen durchzogen war und diese Risse bei jeder Demütigung, bei jedem Schmerz, den er mir zufügte, größer und größer wurden.