Neben dir sein (Kap.9)
Mein Vater ist nach Hause gekommen und hat gehört, dass Mama und ich in der Küche Tee trinken. Er hat nicht einmal den Anstand gehabt, mir Hallo zu sagen, sondern hat mir nur kurz zugenickt und ist dann mit Mama in seinem Arbeitszimmer verschwunden. Schon wieder stehen mir Tränen in den Augen und mein Bauch tut weh. Dieser Umgang tut weh. Ich habe wissen wollen, warum mein Vater mit Mama weggegangen ist und daraus so ein großes Geheimnis gemacht hat. Also bin ich den beiden hinterher gegangen, habe mich vor die verschlossene Tür platziert und angefangen dem Gespräch zu lauschen, welches die beiden führen. „Der Vater hat mir heute eine hohe Summe für mein Schweigen angeboten“, sagt mein Vater gerade und ich kann hören, wie Mama zu schluchzen beginnt. Papa geht schnellen Schrittes zu ihr, kniet sich vermutlich vor ihr hin, nimmt ihre Hände, um sie zu beruhigen. „Sybille, ich werde kein Geld von dieser Drecksfamilie annehmen!“, seine Stimme ist nun deutlicher zu verstehen, weil er lauter spricht, aber er merkt es und drosselt die Lautstärke. Es ist offensichtlich, dass ich nichts von diesem Gespräch mitbekommen soll. „Aber, Robert, was wenn sie uns bedrohen? Was, wenn sie Ellie auflauern werden und diesmal ihr etwas tun?“ Mamas Stimme klingt zittrig, sie weint jetzt hemmungslos. „Sybille, das werde ich nicht zulassen, keiner rührt meine Familie an.“ Ich schlinge meine Arme um mich und kneife den Mund fest zusammen, um nicht los zu schreien. Wovon sprechen die beiden? Wer hat meinem Vater Geld geboten und warum lassen sie mich außen vor?
Ich lasse mich an der Wand hinunter gleiten und versuche, meine zittrigen Hände in den Griff zu bekommen. Mein Kopf schwirrt von den neuen Informationen, ich kann die einzelnen Puzzleteile aber nicht verknüpfen. Mamas Schluchzen ist jetzt das einzige Geräusch im Haus, vermischt mit einem leisen, stetigen Ticken der Uhr in Papas Büro. Ich kann mich nicht dazu bewegen, vom Boden aufzustehen und in mein Zimmer zu gehen, damit meine Eltern nicht mitbekommen, dass ich ihr Gespräch belauscht habe. Mein Mundraum ist ganz trocken, ich spüre, wie sich Kopfschmerzen hinter meinen Schläfen melden. „Elli? Ist alles in Ordnung?“ Mamas Stimme klingt belegt, wahrscheinlich vom Weinen. Ich habe nicht gehört, wie die Tür zum Arbeitszimmer sich geöffnet hat. Alles beginnt sich zu drehen, ich kneife die Augen zusammen, um dem zu entkommen. Bilder jener Nacht flitzen durch meinen Kopf, einzelne Szenarios. Nick, wie er mit jemandem spricht, das Gespräch ist hitzig. Wer ist dieser jemand? Ich fühle mich benebelt und kann nicht ganz zuordnen, wo ich mich befinde. Im Hintergrund läuft Musik, ich höre Gelächter und laute Stimmen. Eine Party. Nicks Gegenüber steht mit dem Rücken zu mir. „Ellie? Robert, hol ihr ein Glas Wasser!“ Mir wird abwechselnd heiß und kalt, ein dünner Schweißfilm hat sich auf meinem Nacken gebildet. Mir wird ein Glas vor die Lippen gehalten, Wasser, ich trinke gierig. Mein Kopf pocht, es fühlt sich an, als würde er gleich platzen. „Ellie, Süße, sprich mit mir“, sagt meine Mutter, ihre Stimme ist sanft. „Ich, mir…“ Mir wird übel, mein Magen ist ein einziger Knoten. Ich kann es nicht aufhalten, würge mir die Seele aus dem Leib. Meine arme Mama.
Mein Vater hat mich ins Bett gebracht, der einzige Kontakt seit einer sehr langen Zeit, ist dann aber sofort verschwunden, um an „paar wichtigen Papieren“ zu arbeiten. Mama hat sich nach meiner Magenentleerung schnell umgezogen und sitzt jetzt neben mir auf meinem Bett. In ihrer Hand hat sie einen feuchten Lappen, den sie mir ab und an über die Stirn tupft. Immer wieder murmelt sie: „Oh Gott, Elli. Hast du mir aber einen Schrecken eingejagt.“ Sie lässt mich nicht mehr aus den Augen, ihr Blick ist besorgt und durchdringend. Ich bin zu schwach mich gegen ihre ärztlichen Versuche zu wehren, aber ein bisschen von dieser mütterlichen Fürsorge tut mir auch gut. Bis auf die leisen Ausrufe meiner Mutter bezüglich meines Zusammenbruchs, schweigen wir. Ich wüsste auch nicht, wie ich das ganze erklären soll. Ach, ich habe einfach ein bisschen gelauscht? Meine Mutter fasst mich sowieso schon mit Samthandschuhen an beim Umgang mit mir und meinen Problemen, da kann ich sie nicht noch mehr zu dem Vergangenen ausfragen. Nicht dass ich es nicht versucht hätte. Das habe ich kurz nachdem es passiert ist und ich das Gespräch mitbekommen habe, indem mein Vater gesagt hat, dass ich keinesfalls den Hintergrund von Nicks Tod erfahren dürfte. Danach hatte ich ein paar Tage gewartet und dann meine Mutter damit konfrontiert. Sie war ganz verlegen geworden, ihre Wangen rot und sie hatte rumgestammelt, dass ich mich verhört haben müsste. Ganz klar eine Lüge. Aber ich hatte keine Lust gehabt, mich noch einmal belügen zu lassen und ich wusste, dass mein Vater mich noch mehr abblocken würde.
„Hast du Hunger? Ich könnte dir Hühnerbrühe machen“, sagt Mama und durchdringt damit die Stille, die den Raum eingehüllt hat, als wären wir in Watte gepackt worden. Ich nicke, aber nicht aus Hunger sondern weil ich sie aus dem Zimmer bekommen möchte. Ich will in Ruhe an die Wand starren und die Gedanken kreisen lassen wie Vögelscharen am Horizont.