Neben dir sein (Kap.8)
Die Worte meiner Lehrerin haben mich in einen Trancezustand versetzt. Ich schlurfe durch die Schulflure wie ein Zombie und kriege kaum etwas von den Menschen um mich herum mit. Bis ich gegen etwas oder bei genauerem Betrachten, gegen jemanden laufe. Marco. Bitte nicht schon wieder, denke ich mir insgeheim und hoffe, dass er mich einfach weitergehen lässt. Aber so einfach funktioniert dieses ganze Chaos natürlich nicht. „Hey, Kleine. Warum so stürmisch heute?“ Sein Gesicht ist ein einziges Strahlen, trotz des leicht besorgten Untertons seiner Stimme. „Bin gestresst“, murmele ich und starte den Versuch, mich an ihm vorbeizudrängen. Marco hält mich am Arm fest. „Ist alles in Ordnung?“, erkundigt er sich und lächelt mir sanft zu. Ich presse die Lippen aufeinander und senke den Blick zu Boden. „Mir geht es gut“, presse ich hervor und verkrampfe mich unter seinem Griff und dem sorgenvollen Blick. Um uns herum strömen die Schüler an uns vorbei. „Du bist total blass, ist dir schwindelig?“ Ich schüttele zaghaft den Kopf. Marco lässt mich nicht los und bahnt sich einen Weg durch die Menge, mit mir im Schlepptau. Kurz vor der Eingangstür bleiben wir stehen, Marco herrscht mich an, damit ich meinen Mantel anziehe. Nachdem das erledigt ist, verlassen wir das Gebäude und ich atme erst einmal tief durch. Die kalte Luft brennt mir in der Nase und ich muss niesen. „Gesundheit“, murmelt Marco und sein Griff lockert sich etwas. Seine Hand lässt meinen Oberarm los, nur um nach meiner schlaffen Hand zu greifen. „Und jetzt noch mal, was ist los?“ Ich kann nicht mit Marco über mein Leben sprechen. Ich kenne ihn doch kaum. „Mir geht es immer noch gut“, erwidere ich, diesmal etwas genervter. Meine Stimme klingt fremd in meinen Ohren, kieksig, so als würde ich gleich schon wieder losheulen. „Wenn es dir gut geht, warum bist du dann mit mir nach draußen gekommen?“ Sein Tonfall ist leicht neckend, so als versuche er, die Informationen aus mir rauszuflirten. „Drinnen war es einfach sehr stickig“, sage ich, aber selbst in meinen Ohren klingt diese Ausrede total lahm. Ein kurzer Blick zu ihm bestätigt meine Theorie. Seine Augenbrauen sind hochgezogen und sein Mund lächelt ausnahmsweise mal nicht. Er ist zu einem dünnen Strich verzogen. Marco sieht mit einem Schlag um einiges älter aus und auf seiner Stirn haben sich Falten gebildet. Dieses Bild macht mir Angst. Ich ringe mir ein Lächeln ab und beteure ihm noch ein weiteres Mal, dass es mir hervorragend gehe. „Ich glaube dir ehrlich gesagt nicht“, murmelt er leise und hofft vermutlich, dass ich ihn nicht höre. „Mein Leben oder mein Gemütszustand geht dich kein bisschen an!“, rufe ich, bereue es aber augenblicklich. Ich hasse solche Szenen. Marco hebt beschwichtigend die Hände und tritt einen Schritt zurück. „Ich wollte nur nett sein.“ Ich drehe mich von ihm weg, weil mir schon wieder Tränen in den Augen stehen. Wann bitte habe ich mich zu so einem Wasserfall verwandelt? Als ich einen kurzen Blick über meine Schulter werfe, hat sich Marco von mir entfernt und befindet sich auf dem Weg zurück zur Schule. Ich kann mich nicht dazu bewegen, weiter am Unterricht teilzunehmen, weshalb ich zur Bushaltestelle laufe und hoffe, dass meine Mutter nicht zu Hause sitzt. Für die Fragerei habe ich jetzt keinen Nerv mehr übrig.
Das Haus ist genauso leer, wie ich es am Tagesanfang zurückgelassen habe und ich lasse mich zu Boden sinken, kaum dass ich die Haustür hinter mir geschlossen habe. Mein Kopf pocht und ich spüre, wie mir die Tränen über die Wangen laufen. Mein Herz schlägt schnell und mein Atem geht stoßweise. Ich stehe kurz vor einer Panikattacke. Alles in mir ist verkrampft, ich fühle mich fehl in meiner Haut. Als wäre ich eine Wachsfigur, die nicht aus ihrem Körper entkommen kann. Ich versuche mich mit den Atemübungen zu beruhigen, die Markus mir nach meinem ersten Anfall gezeigt hatte, aber es hilft nicht. Ich bin danach genauso zittrig und neblig im Kopf. Ich hole mein Handy aus der Jackentasche und wähle die Nummer, die ich früher jeden Abend auf dem Display erscheinen sehen habe oder die ich gewählt habe, wenn es mir schlecht ging. Hi, hier ist Nick. Wie du hörst bin ich gerade nicht ansprechbar, aber hinterlasse doch eine Nachricht hinter dem Piepton. Seine Stimme beruhigt mich und ich entkrampfe meine Hände und wische mir die Tränen aus dem Gesicht. Nick hätte nicht gewollt und nicht zugelassen, dass ich mich so gehen lasse.