Neben dir sein (Kap. 23)
Während der Arbeit schweigen wir größtenteils und Nicks Mutter verschwindet immer mal wieder, vermutlich um im Stillen zu weinen. Sie kommt jedes Mal schniefend und mit geröteten und geschwollenen Augen ins Zimmer, aber um keinen Streit oder ähnliches zu entfachen, kommentiere ich ihren Gemütszustand nicht. Mir selbst geht es nicht besser, nur dass ich die Tränen zurückhalte, wenn auch unter großer Konzentration. Der Schrank ist mittlerweile zum größten Teil ausgeräumt, zwei schwarze Müllsäcke liegen zu meinen Füßen, beide halbvoll. Den einen möchte Luise unbedingt behalten, um die Kleidungsstücke betrachten zu können, die Nick im Laufe der Jahre ständig getragen hat, den anderen Müllsack hat sie als des Spendens würdig deklariert. Ich frage mich, ob ich mir auch einige Teile aus dem „Behalten“- Sack nehmen darf, bin aber zu unsicher, um Luise direkt danach zu fragen. Ganz hinten in seinem Schrank entdecke ich plötzlich ein kleines Kästchen, aus Holz mit einer wunderschön verschnörkelten Schnalle daran. Die Oberfläche ist glatt geschmiergelt, kein einziger Holzsplitter ist zu erkennen. Ich bin mir nicht sicher, ob mir das Öffnen dieser Schatulle zusteht, weshalb ich beschließe, es in der Tasche meines Kapuzenpullovers zu verstecken, um es später genauer zu betrachten. Luise scheint nichts davon mitzubekommen, denn sie starrt mit Tränen in den Augen auf das gerahmte Foto, welches Nick in seiner zweiten Schreibtischschublade aufbewahrt hat. Es ist ein weiteres Familienfoto, welches er nicht aufhängen wollte, weil schon genug im Flur und im Wohnzimmer hingen. Es zeigt alle drei Mitglieder seiner Familie, er eingekesselt zwischen seiner strahlenden Mutter und seinem eher passiven Vater. Alle tragen sie schwarz und rot, das weihnachtliche Ensemble, welches Luise sich vor vielen Jahren mal ausgedacht hatte. „Rot ist eine wundervolle Farbe“, pflegte sie seither zu sagen. „Warum hängt das Bild denn nicht?“, fragt sie in diesem Moment, ihre Stimme klingt weinerlich und gepresst. Ich habe keine Ahnung, was ich ihr darauf antworten soll, weshalb ich die Frage einfach übergehe, in der Hoffnung, sie war rhetorisch gemeint. Luise hackt nicht weiter auf dem Thema herum, nimmt die Fotographie jedoch aus der Schublade und drückt sie an sich, als wäre es Nick höchstpersönlich. Ich halte diesen Anblick nicht länger aus, sie sieht so hilflos und klein aus, obwohl sie eigentlich eine sehr imposante und starke Frau ist. Ich verlasse den Raum, was sie vermutlich nicht einmal bemerkt und gehe zu der Toilette direkt den Flur hinunter. Selbst das Bad beherbergt noch Nicks Eau de Toilette, ein herber und holziger Duft, seine grüne Zahnbürste und sein weinrotes Handtuch. In diesem Haus scheint es so, als würde Nick tatsächlich noch leben, als wäre er gerade einfach nur auf einer Reise. Vielleicht glaubt Luise das ja wirklich, denke ich und ertappe mich bei dem hoffnungsvollen Gedanken, dass er vielleicht wirklich noch lebt. Schnell korrigiere ich mich und verdränge jeden Gedanken, der nur ansatzweise so falsch ist wie dieser. Nick ist tot. Ich muss damit endlich klar kommen. Genau in diesem Moment klingelt mein Handy. Es ist Marco, zu einem mehr als unpassenden Zeitpunkt. Ich atme tief durch, dann nehme ich den Anruf an. „Hallo?“, höre ich seine raue Stimme. Sie klingt fehl am Platz, hier, in Nicks Badezimmer. „Was gibt´s?“, frage ich möglichst beiläufig, lasse meine zitternde Stimme neutral klingen und warte gebannt auf seine Antwort. „Ich würde gerne mit dir reden. Dir alles erklären“, sagt er, auch seine Stimme wirkt zittrig, unsicher. Ich habe seit vier Tagen auf diesen Anruf gehofft, dass Marco endlich versteht, was mich so wütend gemacht hat und hier ist er. Aber statt Freude oder Erleichterung empfinde ich nichts. Mein Inneres scheint wie leer gefegt zu sein. „Elise?“ Ich reiße mich von meinen Gedanken los und willige schließlich ein, mich mit ihm am Abend zu einem Gespräch zu treffen. In welche Richtung das gehen wird, weiß ich nicht genau und kann es auch nicht einschätzen. Aber ich weiß, dass ich jetzt erstmal Luise dabei helfen sollte, ihre Emotionen, vor allem die Trauer zu bewältigen. Als ich zurück ins Zimmer komme, hockt sie auf dem Fußboden, Nicks Socken vor sich. „Er ist immer so unordentlich“, schimpft sie. Dann fängt sich wieder und schiebt ein „War“ hinterher. „Er war so unordentlich.“ Ich nicke, gehe zum Schreibtisch und mache mich an die Arbeit, die sie nicht geschafft hat. Seine Schubladen sind voll mit irgendwelchem Krimskrams. Zettel, vollgekritzelt mit irgendwelchen kleinen Skizzen, Sticker, Kohlestücke für seine Leinwände, Buntstifte, Filzstifte und alle möglichen anderen Stifte. In der untersten Schublade liegt das Fotoalbum, welches ich ihm zu seinem 18. Geburtstag gebastelt habe. Es ist voller Aufnahmen von uns, in jeder möglichen Altersstufe, die wir zusammen durchlebt haben, seit wir uns kennen. Ich nehme es heraus und deponiere es auf dem Schreibtisch, um es später mit nach Hause zu nehmen. Luise hat sich jetzt gefasst, sie steht auf und widmet sich dem Bett. Langsam zieht sie die Bettwäsche ab, bringt sie dann in den Waschkeller und kommt wenig später mit Orangensaft und Keksen wieder. Als wäre das hier ein stinknormaler Mädelsnachmittag. Aber wenigstens versucht sie es. Aus Höflichkeit nehme ich mir einen Schokokeks, esse ihn lächelnd vor ihren Augen und spüle dann mit O-Saft nach. Danach widme ich mich wieder meiner Arbeit. Nach zwei weiteren Stunden harter Arbeit ist das Zimmer soweit leer, dass Luise sich zufrieden gibt mit unserer Arbeit. Zum Abschied umarmt sie mich, bedankt sich für meine Hilfe und lässt mich dann gehen. Außer dem Kästchen in meiner Tasche und dem Album unter meinem Arm, habe ich doch nichts mitgenommen, denn zugegebenermaßen habe ich genügend Klamotten von Nick zu Hause. Nach diesem Tag bin ich zugleich erschöpft aber auch zufrieden mit Luise und mir. Denn wir haben unsere Angstschwelle überschritten und uns der Wahrheit endlich gestellt. Wir müssen ohne Nick weiterleben. Auch wenn es schmerzt.