Neben dir sein (Kap. 22)
Am Sonntag stehe ich in bequemer Jogginghose und einem von Nicks alten Pullovern in der Einfahrt seines Elternhauses, in Mamas Fiat und weiß nicht, ob ich lieber doch wieder fliehen sollte oder nicht. Luise hat gestrahlt, als ich zugestimmt habe, Nicks Zimmer mit ihr auszuräumen und jetzt kann ich nicht mehr aus dieser Aktion raus. Dieser Nachmittag wird tränenreich, denke ich, bevor ich auf die Klingel drücke. Es fühlt sich falsch an, einfach den Schlüssel unter dem Blumentopf mit der pinken Hortensie neben der Haustür hervorzukramen, um sein Haus zu betreten. Es fühlt sich falsch an, ohne ihn hier zu sein. Ich atme mehrmals tief ein und aus und setze ein fröhliches Lächeln auf, als Luise mir die Haustür öffnet. „Hallo, Liebes“, sagt sie und zieht mich in eine Umarmung. Ich kann nicht nachvollziehen, woher dieser plötzliche Wandel der Gefühle kommt, wo sie mich und meine Eltern in den letzten Monaten aus ihrem Leben verdammt hat. Aber ich lasse die Umarmung über mich ergehen, tätschele kurz ihren Rücken und murmele ebenfalls eine Begrüßung. „Möchtest du etwas trinken?“, möchte Luise wissen, ich verneine diese Frage und kann nicht ganz einordnen, wie ich mit dieser aufgesetzten Höflichkeit umgehen soll. Früher ist sie wie eine zweite Mutter für mich gewesen, aber in diesem Moment scheint sie mir so fremd zu sein, wie ich es nie gedacht hätte. „Dann lass uns doch loslegen, oder?“ Ihr Lächeln wirkt mittlerweile verkrampft, so als würde sie versuchen, ihre Fassade aufrecht zu erhalten. Die liebevolle Luise, die am Donnerstag an unserem Küchentisch gesessen hat, ist ausgetauscht durch die kalte Luise, die die letzten Monate nichts von unserer Familie wissen wollte. Nicks Zimmer liegt oben, die Wände, die ich erneut zu Gesicht bekomme, als wir die Treppen nach oben steigen, sind gesäumt mit dekorativen Landschaftsfotografien und perfekten Familienaufnahmen. Luise war immer besessen gewesen von diesem Foto-Gedöns und Nick verdrehte jedes Mal genervt die Augen, als sie einen bevorstehenden Termin beim Fotografen erwähnte. Die Tür zu seinem Zimmer ist geschlossen und bevor Luise die Klinke herunterdrückt, strafft sie die Schultern, atmet tief durch und betritt dann den Raum. Ich tue es ihr nach, wie als würde ich mich vor den Erinnerungen schützen wollen. Alles ist unverändert. Das Bett ist ungemacht, wie an dem Tag, als wir zusammen von hier losgefahren sind, um zu diesem blöden Restaurant zu fahren. Samstag, also Dateabend. Auf dem Schreibtisch liegen Bücher und lose Zettel, Zeichenblöcke und einzelne Stifte. Auf dem Schreibtischstuhl stapeln sich Klamotten, Jogginghosen und T-Shirts und Jeans. Auf dem Fußboden liegen einzelne Socken. Ich muss über die Unordnung lächeln. So typisch Nick. Der Schrank ist vollgeklebt mit Stickern zahlreicher Bands, aber auch mit Hundestickern aus der dritten Klasse, in der Nick seine Huskyphase hatte. „Womit möchtest du denn anfangen?“, bringt Luise gepresst hervor, so als müsse sie die Tränen krampfhaft zurückhalten. „Ich übernehme den Schrank“, erwidere ich und klinge um einiges entschlossener, als ich es eigentlich bin. Aber eine von uns muss die toughe Rolle übernehmen, nicht wahr?