Neben dir sein (Kap. 19)
Als ich Marco wiedersehe, bin ich erstmal enttäuscht darüber, dass er mich auf dem Schulflur einfach ignoriert. Dazu muss man sagen, dass es nicht unbedingt leer ist, dennoch weiß ich, dass er mich gesehen hat. Zumindest hat er mir zugelächelt, sich aber weder mit mir unterhalten noch eine Begrüßung gesagt. Den ganzen Schultag über zwinge ich mich und meinen dämlichen Kopf, der nicht aufhören kann, an Marco zu denken, mich auf die Schulaufgaben zu konzentrieren und dem Lehrer vorne an der Tafel zuzuhören. Das Ganze funktioniert eher mäßig gut, aber ich schaffe es dennoch, mich ein paar Mal mündlich zu beteiligen und dem Lehrer so zu zeigen, dass ich nicht vollständig in meiner Traumwelt versunken bin. Nach dem Unterricht begebe ich mich wie alle anderen Schüler nach draußen. Die meisten laufen gehetzt Richtung Schulbus, andere schlendern wiederum gemächlich über den Schulhof und halten so den ganzen Verkehr auf. Gerade als ich das Tor beinahe erreicht habe, schließt sich eine Hand um mein Handgelenk und ich lasse mich von dieser zur Seite ziehen, um nicht ebenfalls für Stau zu sorgen. Als ich mich umdrehe, stehe ich Marco gegenüber, welcher mich schief angrinst und behutsam eine Haarsträhne aus meinem Gesicht streicht. Meine Verwirrung bezüglich seiner abweisenden Haltung am Morgen und den weiteren Begegnungen in Cafeteria und Co verpuffen augenblicklich, als er mein Gesicht behutsam in seine Hände nimmt und flüstert: „Das wollte ich schon den ganzen Tag über tun.“ Mein kitschiges Herz beginnt zu schmelzen und als er mich dann küsst, ist es wie in den romantischen Filmen, in denen die Protagonistin von Feuerwerken und Harfenmusik schwärmt. In dem Moment ist es egal, dass um uns herum, Scharen von Schüler sich ihren Weg zum Ausgang bahnen oder dass es leicht zu regnen anfängt oder dass zärtlicher Intimkontakt auf dem Schulgelände verboten ist. Wir beide befinden sich in unserer eigenen Blase, bis eine männliche Stimme sie zerplatzen lässt wie mit einer Nadel. „Sucht euch ein Zimmer!“ Es ist Ivan, Marcos düsterer Kumpel, der uns beide spöttisch ansieht und die Arme vor der kräftig ausgeprägten Brust verschränkt hält. „Marco, du Aufreißer“, schiebt er noch hinterher und zwinkert mir mit einem mehr als zweideutigen Grinsen zu. Es scheint, als würde Marco sich auf der Stelle wandeln, sein schiefes Grübchenlächeln, welches mir zu gelten scheint, verschwindet und an seine Stelle tritt ein „cooles“ Grinsen, bei dem seine Augen jedoch unberührt bleiben. Er kommt auf seinen Freund zu, reicht ihm die Hand und sie vollführen dieses komplizierte Abklatschritual, welches Jungs immer auszuführen scheinen. Ich komme mir plötzlich unendlich fehl am Platz vor, als würde ich nicht in diese Welt passen und nicht zu diesem Marco gehören. „Was läuft, Alter? Kommst du heute zu Iron?“, fragt Ivan, wobei er mir in die Augen schaut. Ein eiskalter Schauer läuft über meine Wirbelsäule, wie kleine Eiszapfen, die in meine Haut piksen. „Klar doch“, erwidert Marco, seine Stimme klingt monoton, wie die eines Roboters. Diese Version Marcos ist mir fremd, er scheint wie eine Marionette zu handeln, während Ivan über ihm steht und die Fäden so zieht, wie es ihm am besten passt. „Dann sehen wir uns heute Abend.“ Mit diesen Worten dreht Ivan sich um und geht. Sein Gang ist lässig, so als würde er wissen, dass die Welt ihm zu Füßen liegt. Ich verziehe unwillkürlich das Gesicht. Wer oder was ist dieses „Iron“ überhaupt? Wenn es ein Club ist, ist Montag vielleicht nicht der optimalste Tag, um sich zu besaufen. Marco erwacht aus seinem Zombiezustand, lächelt mich an und verabschiedet sich dann. Ohne mich noch einmal zu berühren. Wieso hat Ivan diese Macht über ihn?