Neben dir sein (Kap. 12)
Ich weiß nicht mehr wirklich, wie ich in den Schlaf gefunden habe, weiß aber, als ich aufwache, dass ich keinesfalls länger in diesem Haus schmollen werde. Also packe ich kurzerhand meine Schulsachen, springe unter die Dusche und wasche all die Tränen und Gedanken vom vergangenen Abend von meiner Haut. Vor dem Kleiderschrank stehend, entscheide ich mich für eine dunkelblaue Skinny Jeans und ein dunkelgrünes Rollkragenshirt. Unten schnappe ich mir einen Müsliriegel und schlüpfe in meinen Mantel und die schwarzen Bikerboots. Nick hatte sie nie gemocht, hat gesagt, dass sie nicht zu mir und meinem Charakter passen. Aber jetzt fühle ich mich genau danach, anders aussehen zu wollen. Meine Haare binde ich schnell zu einem lockeren Knoten zusammen und renne schnell los, um den Bus nicht zu verpassen. Kaum habe ich die Haltestelle erreicht, hält der Bus auch schon vor meiner Nase. Die Abgase lassen mich die Nase rümpfen und ich springe schnell ins Innere. Natürlich ist kein Platz mehr frei, also stelle ich mich neben eine Haltestange und schiebe mir meine Kopfhörer in die Ohren. Die sanften Klänge meines Lieblingssongs der letzten Zeit treiben mir unpassender weise Tränen in die Augen, weshalb ich eine andere Playlist aufrufe und somit jegliche Trauer vertreibe. Für den Moment zumindest. Der Bus hält schnaufend vor der Schule, alle Schüler und Schülerinnen strömen ins Freie. Manche beeilen sich so schnell es auch geht, andere schlendern wiederum gemächlich zum Eingang, lassen sich Zeit, rauchen oder tratschen noch ein wenig mit dem Freund oder der Freundin. Ich nehme langsam die Kopfhörer aus meinen Ohren, verstaue diese in meiner Manteltasche und laufe ins Innere der Schule. Die Worte meiner Lehrerin kommen wir wieder in den Sinn. Heute muss ich eine Art Neubeginn starten, meine Schulleistungen wieder auf Vordermann bringen. Ich bin so in Gedanken versunken, dass ich die Person nicht bemerke, die mir entgegenkommt und mit der ich kurzerhand zusammenpralle. Als ich mich wieder gefangen habe, erkenne ich auch mein Gegenüber. Es ist Ivan, von Marcos Party. Ich lächele ihm entschuldigend zu und will mich gerade auf den Weg machen, da höre ich: „Warte kurz!“ Er holt mich schnellen Schrittes ein, greift sachte nach meinem Arm und dreht mich so zu sich herum. „Wo warst du die letzten Tage?“, möchte er wissen, sein Griff hält mich davon ab, einfach davonzulaufen. Bei richtiger Beleuchtung und nicht dem Halbdunkel der Party, wirkt er ziemlich einschüchternd und ich wünsche mir, er hätte einen anderen Weg gewählt, damit wir nicht zusammengestoßen wären. „Warum?“, hake ich nach, meine Stimme klingt in meinen Ohren fremd, kieksig und leise. „Marco hat sich Sorgen gemacht, er hatte Angst, dass etwas Schlimmes passiert ist.“ Bei seinen Worten wird mir ganz warm und meine Hände beginnen zu kribbeln. Warum interessiert es Marco überhaupt? „Und warum hat er mich das nicht selbst gefragt? Ich besitze ein Telefon, weißt du?“ Er grinst, was einen goldenen Zahn entblößt und sagt: „Du bist witzig, Kleine.“ Dann lässt Ivan mich los und schlendert total entspannt von dannen. Ich bleibe total durch den Wind dort stehen, bis der Gong mich daran erinnert, dass ich mich in der Schule befinde und jetzt zum Unterricht gehen sollte. Ich gebe mir während der einzelnen Stunden tatsächlich Mühe, mitzukommen, schreibe mit, statt aus dem Fenster zu starren. Aber es ist nun mal schwer, sich auf den Stoff zu konzentrieren, wenn man davor kaum aufgepasst hat. Ich gehe nach jeder Stunde zu der Lehrkraft, erkläre mein Anliegen, woraufhin, alle verständnisvoll nicken und mir einige Zettel reichen, die mir „sicherlich behilflich sein können“. Am Ende des Tages habe ich eine volle Klarsichthülle und eine Menge an Hausaufgaben und anderem Zeug, dass ich noch nachholen muss. Nachdem ich alles verstaut habe, hole ich mein Handy aus der Tasche, um meine Musik wieder laufen zu lassen und entdecke eine neue Nachricht. Hab gehört, du hattest eine nette Unterhaltung mit Ivan. Ich verdrehe lächelnd die Augen und schicke ihm einen Zwinker-Smiley als Antwort. Das kann ja lustig werden. Vor allem, weil ich dieses Ganze Kribbeln nicht zuordnen kann, aber genau weiß, dass es sich nicht mit der Trauer kombinieren lässt, die in letzter Zeit so auf mir liegt. Es kommt keine Antwort mehr von ihm, weshalb ich mein Handy wieder in der Tasche verstaue und mich auf den Weg zu meinem letzten Kurs, nämlich Physik mache.
Der Unterricht verläuft schleppend, aber anstatt erneut abzudriften, wie ich es die letzten Monate lang gemacht habe, versuche ich, mich auf den Tafelanschrieb des Lehrers zu konzentrieren und mich in das Thema einzuarbeiten. Einmal schaffe ich es sogar, mich zu melden und so meine mündliche Mitarbeit zur Kenntnis zu bringen, wobei meine Aussage aber leider total falsch ist und der Lehrer das mit einem spöttischen Grinsen quittiert. Zum Ende der Stunde merke ich immer wieder, wie mein Handy in der hinteren Hosentasche vibriert, was Herr Meyers aber nicht zu bemerken scheint, da er weiter mit einem meiner Mitschüler über die vektorielle Größe der Kraft diskutiert. Nach der Schule schaue ich also auf mein Handy und finde mehrere Anrufe von Marco wieder. Als ich hochschaue, weil ich sehen möchte, wohin ich trete, sehe ich ihn und rufe seinen Namen. „Warum hast du mich angerufen?“, möchte ich wissen, als ich bei ihm ankomme. „Hast du heute schon etwas vor?“ Diese Frage verwundert mich, weil ich noch genau weiß, wie niedergeschlagen er vor ein paar Tagen ausgesehen hat, als ich ihn so weggestoßen habe. Anscheinend hat er sich wieder davon erholt, denn er steht grinsend vor mir und wartet auf meine Antwort. Gerade möchte ich mir schon eine Ausrede ausdenken, um dieses Treffen zu vermeiden, als ich merke, dass ich eigentlich wirklich Lust habe, etwas mit Marco zu unternehmen und mich so auf andere Gedanken zu bringen. Also lächele ich zurück und antworte: „Nichts, wieso?“