Neben dir sein (Kap. 2)
Mein Vater kommt wenig später nach Hause, er sieht müde aus und hat Ringe unter den Augen. Es tut mir weh, ihn so zu sehen, wo er doch früher so ein lebensfroher und lachender Mann war. Er stellt seinen Aktenkoffer auf den Boden, zieht seinen Mantel und den dicken Schal aus und wirft einen kurzen Blick in die Küche, um Mama zu begrüßen. „Hallo Sybille, ist Els schon da?“ Ich sehe nicht, was meine Mutter tut, ich stehe auf dem Treppenabsatz und lausche, aber ich bin mir sicher, dass sie in dem Moment einfach nur nickt. Ich sollte wohl nach unten gehen und ihn richtig begrüßen, aber ich möchte seinen Blick nicht auf mir ruhen sehen, diesen traurigen, mitleidigen Blick, den er nun seit vier Monaten auf dem Gesicht trägt. „Hast du Hunger?“, erkundigt sich meine Mutter und Papa bejaht diese Frage. Wenig später höre ich, wie die Tür geschlossen wird. Das ist in den letzten Wochen oft passiert, aber wenn ich frage, was die denn so bereden, werde ich mit einer banalen Lüge abgespeist. Ich setze mich auf mein Bett, starre an die Fotowand gegenüber von mir und verfluche meine Tränendrüsen. Der Großteil der Fotos zeigt Nick und mich, an verschiedenen Orten und in unterschiedlichen Altersgruppen. Sein Anblick ruft jedes Mal die Drüsen wach und ich heule drauf los wie ein Schlosshund. So viel Blut war dort gewesen, so viel. Damals hatte ich seltsamerweise nicht weinen können, jetzt dafür umso mehr. Ich wende mich von der Wand ab und greife nach meinem Laptop. Vielleicht kann ein Film mich ja ablenken. Ich öffne Google und suche nach Netflix. Aber nicht einmal der Anblick einer neuen Staffel meiner Lieblingsserie kann mich aufheitern. Selbst die erinnert mich zu sehr an ihn. Ich greife nach meinem Handy und gehe auf die Fotogalerie. Mein Finger klickt auf das Album mit Nick und ich halte den Atem an bei seinem Anblick. Das letzte Foto ist einen Tag vor seinem Tod entstanden und er sieht so lebendig da drauf aus, dass mir jedes Mal der Atem stockt, wenn ich es betrachte. Seine dunklen Haare stehen wie immer in alle Richtungen ab und seine tiefgründigen grauen Augen sind auf mich, die er im Arm hält, gerichtet. Sein Mund ist zu einem glücklichen Lächeln verzogen und um seine Augen haben sich kleine Lachfältchen gebildet. Ich strahle in die Kamera und halte den Blumenstrauß in meinen Händen. Jeden Samstag war bei uns Datetag. Mit Blumen und schicken Klamotten und allem drum und dran. Manchmal fuhren wir essen, manchmal in den Park oder Bowlen, aber diese Klamotten mussten sein. Es war Nicks Idee gewesen und ich konnte ihm noch nie einen Wunsch abschlagen. Das waren die schönsten Tage. Ich wische mir die Tränen weg und klicke zum nächsten Bild.
Als ich am darauf folgenden Montag aufwache, weiß ich nicht mehr wirklich, was ich am Wochenende gemacht habe. Ein Blick in den Spiegel lässt mich erschrecken, meine Augen sind rot und geschwollen. Anscheinend habe ich viel geheult. Da muss eine große Ladung Concealer her. Ich gehe langsam ins Badezimmer und bleibe vor dem Waschbecken stehen. Nach einer kurzen Katzenwäsche, verschwinde ich wieder in meinem Zimmer und mache mich an die Kriegsbemalung. Nach mehrfachem Verteilen der Grundierung und einem Schwung Wimperntusche, ziehe ich mich an und tappe nach unten in die Küche. Meine Eltern sind schon weg, auch dem Küchentisch steht eine Schale mit Haferbrei und etwas Obstsalat. Ich habe keinen wirklichen Hunger, esse aber die Reste des Salats und räume den Brei dann in den Kühlschrank. Im Flur schnappe ich mir meine Tasche und den Mantel und verlasse danach das Haus. Die Bushaltestelle ist nicht weit von unserem Haus entfernt, fünf Minuten Fußmarsch. An der Haltestelle treffe ich auf eine ältere Dame, die die Sitzfläche okkupiert hat und einen jungen Mann, der etwas abseits steht, telefoniert und dabei raucht. Der Nikotingeruch wabert zu mir und ich schließe die Augen, um mich davon abzuhalten, wieder loszuflennen. Es erinnert mich schon wieder an Nick. In den letzten Monaten erinnert mich aber auch alles an ihn. Ich stecke mir meine Kopfhörer in die Ohren und klicke auf meinen Lieblingssong in den letzten Wochen. Eine totale Deprischnulze, wie Nick sicherlich gesagt hätte. Der Bus kommt und hält mit quietschenden Reifen vor uns. Etwas von dem Regenwasser, welches sich noch vom Vortag zu einer Pfütze gesammelt hat, spritzt in meine Richtung. Ich stelle mich hinter die Frau und steige ein. Kein einziger Sitzplatz ist mehr frei, ich quetsche mich so weit durch, dass ich mich wenigstens festhalten kann. An der Schule angekommen, schwirrt mir bereits der Kopf, obwohl noch nichts wirklich passiert ist. Meine Kopfhörer verstaue ich in der Jackentasche und krame in meinem Rucksack nach einem Haargummi, um meine Haare in einen losen Knoten zu binden. Gerade werde ich fündig, in den Tiefen der Tasche, als mich jemand von hinten anrempelt. „Pass doch auf, du Idiot“, keife ich und lasse das Gummi wieder an seinen Platz fallen. Das hier ist jetzt erst mal wichtiger. Aber als ich mich umdrehe, stehe ich vor einem Typen mit dunklen Locken und einem frechen Grinsen. „Ich würde mich nicht als Idiot beschimpfen, Kleine“, sagt er und sein Lächeln wird noch breiter. Ich verdrehe bloß die Augen und gehe weiter. Ich habe wirklich keine Lust mich mit dem auseinanderzusetzen. Ist egal, dass er mich geschubst und dabei von meinem Plan, mir meine Haare aus dem Gesicht zu schaffen, abgelenkt hat. Aber er hat Nick so ähnlich gesehen mit den Haaren, dass ich schon wieder ein Stechen in der Brustgegend verspüre. Auf den Gängen herrscht reges Treiben, Schüler und Schülerinnen laufen umher und hechten zu ihren Klassenzimmern. Ich beeile mich ebenfalls zu meinem Klassenraum zu kommen und lasse mich kurz vor dem Klingeln fallen. Mein Platz ist ganz hinten neben dem Fenster, damit ich mich ablenken kann, falls es mir zu langweilig wird. Die Lehrer lassen es mir durchgehen, wahrscheinlich aus Mitleid wegen den letzten Monaten und dem Vorfall. Meine Eltern hatten sie informiert und ich hatte mehrere Wochen schulfrei gewährt bekommen. Nicht dass ich sie wirklich gebraucht hätte, ich durfte nicht wirklich um Nick trauern. Seine Familie, insbesondere die Mutter, hatte mir ausdrücklich verboten zu ihnen nach Hause zu kommen, um ihm nahe sein zu können, weil sie mir die Schuld an seinem Tod gaben. Dieses Verhalten mir gegenüber tat sogar noch mehr weh, als die Tatsache, dass der Junge, den ich geliebt habe, nie mehr zurückkehrt. Ich konnte nie wieder seinen Duft riechen, seine Arme um mich herum spüren oder mit ihm rumblödeln.
Unsere Lehrerin kommt herein und reißt mich mit ihrer schrillen Begrüßung aus den Gedanken. Ich kann auch noch später in Erinnerungen schwelgen. Der Sitzplatz neben mir ist leer, keiner möchte neben mir sitzen und womöglich riskieren, dass ich diese Person voll weine. So was würde ich zwar nicht tun, aber das ist auch unwichtig. Ich brauche keine Gesellschaft. Seit Nick nicht mehr hier ist, möchte niemand etwas mit mir zu tun haben. Sie haben Angst, dass ich zerbrechen könnte, oder so. Meine beste Freundin Arina hat mir wenige Wochen nach Nicks Tod mitgeteilt, dass sie meine Trauer und die ständigen Heulanfälle nicht ertragen könne, weil es sie selbst depressiv mache und sich wenig später mit einem anderen Mädchen aus der Parallelklasse angefreundet. Und das nach zwölf Jahren Freundschaft. Natürlich kann ich es ihr nicht verübeln, es ist schwer, vor allem wenn man nicht weiß, was man für diese Person tun kann und wie man sie trösten kann. Dennoch tut es weh, trotz des ganzen Wissens. Es ist schon genug gewesen, Nick zu verlieren. Der Unterricht zieht nur so an mir vorbei und ich kriege nichts mit. Alle anderen beteiligen sich irgendwie und tragen etwas zum Unterricht bei, ich starre aus dem Fenster und denke nach. Wie eigentlich jeden Tag. Meine Gedanken kreisen unaufhörlich.