Neben dir sein (Kap. 3)
Irgendwie geht der Schultag zu Ende und ich kann nach Hause gehen. Draußen ziehe ich meinen Parka enger um mich und stakse in Richtung Haltestelle. Auf dem Weg dorthin treffe ich seltsamerweise wieder auf den Typen von heute Morgen und kriege sofort ein Lächeln von ihm. „Na, Kleine? Hast du dich von unserem Zusammenstoß erholt?“, fragt er und streicht sich sein Haar aus der Stirn. Ich nicke bloß und setze meinen Marsch fort. Ich will meinen Bus wegen seines blöden Gelabers nicht verpassen. Aber natürlich lässt er mich nicht so einfach vom Haken. Statt mich in Ruhe zu lassen, läuft er neben mir her und sagt erst einmal nichts. Ich werde das Schweigen ganz sicher nicht brechen. „Wie heißt du, Kleine?“, möchte er auf einmal wissen, als wir fast die Haltestelle erreicht haben. Der Bus ist noch nicht da. „Elise“, erwidere ich einsilbig, erkundige mich aber nicht nach seinem Namen, was ihn aber anscheinend nicht zu stören scheint. „Ich bin Marco“, sagt er und grinst. Irgendwie grinst dieser Junge die ganze Zeit. Gute Laune hätte ich auch gerne öfter. Ich nicke bloß als Antwort und verabschiede mich schnell mit den Worten: „Ich muss los, mein Bus kommt.“ Ich lasse ihn verwirrt zurück und laufe die letzten Meter zur Haltestelle. Marco also. Wenig später hält der Bus vor mir und ich steige ein. Dieses Mal habe ich etwas mehr Glück als bei der morgendlichen Fahrt und ergattere einen Sitzplatz am Gang. Meine Kopfhörer wieder im Ohr, lausche ich der Musik und blende alle anderen Passagiere aus. An meiner Haltestelle angekommen, schlängele ich mich durch die Menge und springe aus dem Bus. Zu Hause ist niemand, mein Vater ist wie immer in seiner Kanzlei und meine Mutter wahrscheinlich bei ihrem Therapeuten. Ist eben auch für die Mutter schwer, wenn der Freund der Tochter eiskalt ermordet wird. Mama ist seit drei Monaten arbeitslos. Früher hatte sie ein eigenes kleines Unternehmen zusammen mit Luise, Nicks Mama, aber nach seinem Tod konnte Luise unsere Familie nicht mehr ertragen. Verständlich, wie gesagt, aber ich fand es dennoch unfair, dass sie das auch auf meine Mama übertrug und nicht nur auf mich. Luise hatte Mama aus dem Unternehmen, ein kleines aber feines Blumengeschäft, gekickt, weil sie vom Vertrag her die Hauptgrundbesitzerin ist. Ich schäle mich aus meinem Mantel und schmeiße den Rucksack in die Ecke des Flurs, dann gehe ich in die Küche und erkunde den Kühlschrank. Fehlanzeige, es gibt nichts wirklich Essbares hier im Haus. Also gehe ich in mein Zimmer und werfe mich aufs Bett. Der Fernseher wird angemacht und ich zappe durch die verschiedenen Kanäle. Bei einer Comedy-Sendung bleibe ich stehen und versuche, mich auf die Witze zu konzentrieren. Klappt nicht, wenig später bin ich eingeschlafen.
Als ich meine Augen öffne, liegt neben mir ein Tablett mit Suppe und kleinen Baguettestückchen. Mama ist wieder zu Hause und hat auch noch mitbekommen, dass ich noch kein Mittagessen hatte. Ich nehme dankbar die Schüssel mit Suppe und wenig später ist diese leer. Das Tablett in den Händen, tapse ich nach unten und finde meine Mutter in der Küche vor, wo sie Gemüse schnippelt. „Was machst du da?“, frage ich sie und stelle das Tablett auf der Arbeitsfläche ab. „Ach, ich mache eine Gemüsepfanne für heute Abend. Papa kommt bestimmt hungrig nach Hause“, sagt sie und streicht sich mit der Hand einer Haarsträhne aus dem Gesicht. „Wie war dein Tag?“, möchte sie wissen und legt das Messer zur Seite, um ihre Aufmerksamkeit vollständig mir zu widmen. Nur dass ich nichts Spannendes zu erzählen habe. „War ganz gut, nichts Besonderes“, lautet meine Antwort und ich lasse sie weiter schneiden. „Ich habe heute Luise im Supermarkt gesehen“, sagt Mama plötzlich und ich erstarre. Meine Handflächen beginnen augenblicklich zu schwitzen und mein Mund wird trocken. Ich weiß, wie sehr es meinen Eltern zusetzt, ihre einst besten Freunde verloren zu haben. Insbesondere meiner Mutter. „Und?“, erkundige ich mich vorsichtig. Mama hält im Schneiden inne und schaut mich direkt an. „Sie sah sehr traurig aus. Sie hat abgenommen, es tut mir leid sie so gesehen zu haben.“ Mein Herz tut noch ein kleines Stückchen mehr weh. Jedes Mal, wenn ich so etwas höre, fühlt es sich an, als würde ein Stück weg brechen. „Hat sie mit dir geredet?“, spreche ich die Frage aus, die mir auf der Zunge brennt. Eigentlich weiß ich die Antwort darauf auch so schon, aber es ist besser zu fragen, als die Stille im Raum zu spüren. „Nein, leider nicht“, murmelt Mama und schaut wieder auf ihr Schneidebrett. Ihr Blick ist leer und ich kann Tränen in den Augenwinkeln erkennen. Diese Zeit ist schwer für uns alle. Und es bricht mir das Herz, meine Mutter so sehen zu müssen.